Deutschland ist bei der Säuglingssterblichkeit nur Mittelmaß. Um mehr Kinder zu retten, wären harte Einschnitte in der Krankenhauslandschaft nötig - dazu zeigt sich die Politik bislang unfähig. Doch auch die Mütter tragen große Verantwortung.
Obwohl sich die medizinische Versorgung in Deutschland rasant weiterentwickelt, sterben auch heutzutage noch immer Säuglinge in ihren ersten Lebenswochen oder direkt nach der Geburt. Aktuelle Zahlen zeigen, dass 3,3 von 1.000 Kindern in Deutschland ihr erstes Lebensjahr nicht erreichen.
Deutschland schwach im Vergleich mit anderen EU-Staaten
Das ist freilich meilenweit entfernt von Zuständen wie in Entwicklungsländern. Doch viele Experten finden die Zahlen noch immer zu hoch.
Insbesondere der Vergleich mit anderen EU-Staaten zeigt, dass Deutschland es vielleicht besser machen könnte – wie Finnland zum Beispiel. Hier liegt der Wert lediglich bei zwei Kindern pro 1.000 Geburten – und damit niedriger als in Deutschland. Auch in Tschechien, Portugal oder Schweden ist die Säuglingssterblichkeit etwas geringer.
Für den Mediziner Wolfgang Henrich ließen sich die vergleichsweise höheren Zahlen unter anderem mit einer "Regionalisierung" deutscher Geburtskliniken bekämpfen. Der Professor leitet die Klinik für Geburtsmedizin an der Berliner Charité und beschäftigt sich seit langem mit der Frage, wie sich die Mortalität von Säuglingen vermindern lässt.
Sein Befund: "Es gibt in der Fläche sehr viele kleine Geburtskliniken, die weder genug Erfahrung noch die optimale Ausstattung für schwierige Geburten haben." Dabei sei es sicherer für eine schwangere Frau in ein Perinatalzentrum, also eine Einrichtung zur Versorgung von Früh- und Neugeborenen, hoher Versorgungsstufe anzureisen und dort zu gebären, als ein Kind nach einer teils unvorhersehbaren komplizierten Geburt in ein hochspezialisiertes Krankenhaus zu verlegen.
Dass eine höhere Krankenhausdichte zwangsläufig zu einer besseren medizinischen Versorgung führe, sei ein Trugschluss, der sich auch mit dem Vergleich zu anderen Staaten belegen lässt. In Deutschland gibt es derzeit 162 Perinatalzentren, also Einrichtungen zur Versorgung von Früh- und Neugeborenen, allein in Bayern sind es 30.
Jedoch sind diese hinsichtlich ihres Versorgungslevels in drei Stufen unterteilt. Dass es etwa in Portugal zwei und in Schweden neun, also weniger Zentren mit höchster Versorgungsstufe als in Deutschland gibt, schlägt sich in der Statistik offensichtlich nicht negativ nieder.
Weniger Krankenhäuser, dafür eine bessere Ausstattung
Alle genannten Staaten belegen bessere Plätze als die Bundesrepublik. Henrich fordert deshalb, die Zahl der Zentren auf weniger, dafür hochspezialisierte Einrichtungen mit angepasster Bettenzahl und Personalausstattung zu konzentrieren. "Wenn damit erreicht wird, dass die Fachkompetenz in weniger Kliniken stärker gebündelt und damit eine bessere medizinische Versorgung sichergestellt wird, sehe ich Vorteile durch Krankenhausschließungen", so Henrich. Dies ginge aber zulasten von Nähe zwischen Patienten und Krankenhäusern und erfordere deshalb den Mut der Politik, insbesondere der Kommunalpolitik und Überzeugungskraft gegenüber der Bevölkerung durch Aufklärung.
Ein Blick in die Statistik zeigt, dass zu Panik kein Grund besteht - der medizinische Fortschritt drängt die Kindersterblichkeit in der EU insgesamt zurück. "Die Wahrscheinlichkeit als reifes und gesundes Neugeborenes zu versterben, ist extrem gering", sagt Henrich.
Starben 2017 in Deutschland rund 3,3 Säuglinge pro 1.000 Geburten, wurden zehn Jahre zuvor noch 3,9 Todesfälle registriert. Die höchsten Raten verzeichnen heute Malta und Rumänien, danach folgt Bulgarien.
Zu den niedrigsten Fallzahlen kommt es laut Statistikbehörde Eurostat in Zypern und Finnland. Auch in Deutschland gehen die Zahlen zurück. Seit Mitte der 1940er Jahre ist in ganz Europa eine starke und anhaltende Verbesserung zu verzeichnen.
Deutschland nur Mittelmaß? Das liegt auch an der Statistik
Dass Deutschland bei der Säuglingssterblichkeit keinen Spitzenplatz belegt, ist nach Ansicht des Mediziners allerdings nicht nur auf die Infrastruktur zurückzuführen. Die Zählweise und die Interpretation der Daten unterscheide sich zwischen den Staaten, gibt Henrich zu bedenken, und nennt als Hauptgrund den Umgang und die Behandlung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit.
Anders als in vielen Staaten werden in Deutschland Frühgeborene nämlich in Absprache mit den Eltern auch dann therapiert, wenn ihre Überlebenswahrscheinlichkeit extrem niedrig ist. "In etlichen Staaten werden Frühgeborene nicht therapiert, wenn sie vor 24 oder 25 vollendeten Schwangerschaftswochen zur Welt kommen", sagt Henrich. "In Deutschland werden Frühgeborene teilweise schon ab 23 vollendeten Schwangerschaftswochen intensivmedizinisch am Leben erhalten."
Sollten die Kinder dann trotz umfangreicher medizinischer Behandlung nicht überleben, würden sie in der Statistik mitgezählt – anders als sogenannte Neonaten, bei denen lebensrettende Maßnahmen überhaupt nicht versucht werden und diese als späte Fehlgeburt in die Statistik einfließen. In diesem Fall führt damit ausgerechnet der hohe medizinische Standard zu einer Verschlechterung in der Statistik. "Hier wird deutlich, dass ein direkter Vergleich aufgrund der verschiedenen Systeme nur bedingt möglich ist und die Einzelfälle analysiert werden müssten", sagt Henrich.
Falscher Lebenswandel führt häufig zu Frühgeburten
Frühgeburten und angeborene Fehlbildung sind der häufigste Grund, weshalb Säuglinge ihr erstes Lebensjahr nicht erreichen. Auch hinsichtlich schwerwiegender angeborener Fehlbildungen werden die Eltern in Deutschland ermutigt, die Schwangerschaft fortzusetzen und die intensivmedizinischen Möglichkeiten zu nutzen, um das Leben zu erhalten. Besonders Frühgeburten und deren Komplikationen und zum Teil auch angeborene Fehlbildungen könnten durch eine Primärprävention vermieden werden.
Der Lebenswandel vor und während der Schwangerschaft, der Konsum von Zigaretten, Alkohol und Drogen, Über- und Untergewicht, ungesunde Ernährung, psychosoziale Konflikte und finanzielle Schwierigkeiten beeinflussen maßgeblich die Auftrittswahrscheinlichkeit einer Frühgeburt und zum Teil auch von Fehlbildungen, so der Experte. Außerdem steige das Risiko, wenn Frauen in höherem Alter schwanger werden oder auch nach Kinderwunschbehandlungen.
Um diese Risiken zu minimieren, hält Henrich deshalb Prävention, die bereits in der Schule mit einem Schulfach "Gesundheit" beginnen könnte, für eine effektive Gegenmaßnahme. "Heranwachsende müssen rechtzeitig über die Vermeidung von Risiken für eine spätere Schwangerschaft und das Ungeborene aufgeklärt werden", fordert er.
Beispielsweise schafften es 18 Prozent der Frauen nicht, das Rauchen während der Schwangerschaft aufzugeben, weil sie sich diese Gewohnheit oder Sucht schon in der Jugend zugelegt hätten. Nicht umsonst bezeichnet er das Rauchen deshalb als "größte Pest der Neuzeit".
Sie einzudämmen, so der Experte, sei die Aufgabe der Politik durch Verschärfung der Gesetze, der Krankenkassen und Arbeitgeber durch Anreize, der Lehrer, der Eltern und nicht zuletzt jedes Einzelnen in seinem Umfeld durch Aufklärung, Vorbild, Überzeugung und nachhaltige Entwöhnungsangebote an die bereits Suchterkrankten.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Prof. Dr. Wolfgang Henrich, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe mit dem Schwerpunkt Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin der Charité
- Eurostat: Säuglingssterblichkeit je 1000 Lebendgeburten
- ÄrzteZeitung: Deutschland ist nur Mittelmaß
- Perinatalzentren: Qualität der Versorgung sehr kleine Frühgeborener
- Rajmil L, Taylor- Robinson D, Gunnlaugsson G, et al. – Trends in social determinants of child health and perinatal outcomes in European countries 2005–2015 by level of austerity imposed by governments: a repeat cross- sectional analysis of routinely available data (BMJ Open 2018)
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