• In Bosnien sorgt derzeit vor allem ein Mann für Sorge vor einem erneuten Krieg auf dem Balkan: Milorad Dodik.
  • Der Anführer der serbischen Separatisten in Bosnien droht immer wieder mit Abspaltung, fordert Hunderte Gesetzesänderungen und eine eigene Armee.
  • Bei den Bosniaken, den muslimischen Bosniern, weckt das grausame Erinnerungen. Die Historikerin Marie-Janine Calic und die bosnische Journalistin Melina Borcak erklären die Hintergründe.

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Die Angst sitzt vielen von ihnen noch tief in den Knochen. 1995, das scheint nicht lange her. Damals, am Ende des dreijährigen Bosnienkrieges, waren mehr als 100.000 Tote zu beklagen, die meisten auf Seiten der Bosniaken, der bosnischen Muslime.

Das Massaker von Srebrenica im Juli 1995, bei dem mehr als 8.300 Bosniaken von bosnischen Serben ermordet wurden, war nur der traurige Höhepunkt des jahrelangen Genozids an Bosniaken.

Schaffung einer eigenen Armee

Dass die Ängste der Bosniaken in diesen Tagen wieder hochkochen, hat vor allem einen Grund: Milorad Dodik. Das serbische Mitglied der Dreier-Präsidentschaft Bosnien und Herzegowinas droht immer wieder mit Abspaltung der Entität "Republika Srpska", schürt Hass gegen Bosniaken und leugnet den Genozid an Bosniaken.

Schon seit Langem blockiert der Nationalist Dodik die Arbeit der gesamtstaatlichen Institutionen, nun hat sich sein Ton aber weiterverschärft: Er plant die Schaffung einer eigenen Armee im bosnisch-serbischen Landesteil, will sich mit Gesetzesänderungen vom Steuer- und Justizsystem lösen und fordert die Auflösung des Amtes des Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft.

Brüchiger Frieden in Bosnien

Diesen mächtigen Posten hat seit August 2021 der ehemalige Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt inne. Er selbst kann in Bosnien Gesetze erlassen, notfalls sogar Politiker absetzen. Im UNO-Bericht warnte Schmidt jüngst vor der "schwersten existenziellen Bedrohung der Nachkriegsperiode" für das Balkan-Land.

Der Frieden in dem Nachfolgestaat des ehemaligen Jugoslawien ist ohnehin brüchig. "Das Problem ist, dass es im Bosnien-Krieg keine eindeutigen Gewinner und Verlierer gab. Der Frieden wurde von der Staatengemeinschaft zu einem Zeitpunkt aufoktroyiert, an dem die Konfliktparteien ein militärisches Patt erreicht hatten", sagt Historikerin Marie-Janine Calic im Gespräch mit unserer Redaktion.

Dysfunktionaler Staat

Die sogenannte Bosnien-Kontaktgruppe habe damals versucht, mit dem Friedensvertrag von Dayton die unvereinbaren Positionen irgendwie unter einen Hut zu bekommen. "Die Serben wollten einen eigenen Staat, die Bosniaken ein zentralistisch aufgebautes Bosnien-Herzegowina und die Kroaten wollten bestimmte föderale Rechte", erinnert die Expertin.

Dazu sei ein unglaublich kompliziertes Staatswesen mit etlichen föderalen Einheiten und einer hyperkomplexen Verfassung geschaffen worden. "Der Staat ist dysfunktional und keine Seite identifiziert sich voll mit ihm", sagt Calic. Jede Seite fürchte, die andere könnte ihr in Zukunft noch etwas wegnehmen.

Wie groß ist die Kriegsgefahr?

Dass erneut ein Krieg ausbricht, der mit dem der 1990er Jahre vergleichbar ist, hält die Historikerin trotzdem für unwahrscheinlich. "Eher könnte es zu lokalen Spannungen und bewaffneten Zusammenstößen kommen", glaubt sie. In den 90er Jahren sei es um die Aufteilung Jugoslawiens gegangen, Fragen zu Grenzen, Staatsaufbau und Verfassung seien offen gewesen.

"Die Fragen sind mittlerweile geklärt, auch wenn das Resultat durchaus umstritten ist", sagt Calic. Zwar gebe es Berichte, dass Bevölkerungsteile bewaffnet werden, aber der Grad der Bewaffnung habe nicht dasselbe Ausmaß wie in den 90er Jahren.

Expertin: "Es hängt an Dodik"

"Ich bezweifle auch, dass der Wille bestünde, einen Krieg zu führen", sagt die Historikerin. Ihrer Einschätzung nach werde politisch Druck aufgebaut, die militärische Konfrontation sei aber nicht ernst gemeint.

Melina Borcak sieht das anders. Die bosnische Journalistin arbeitet schwerpunktmäßig zum Thema Völkermord. "Wie groß die Kriegsgefahr jetzt ist, hängt von der internationalen Gemeinschaft und von den serbischen Nationalisten ab", sagt sie. Die serbischen Nationalisten hielten weiter am Ziel eines "Großserbiens" fest. "Es hängt an Dodik, wie sehr er die Situation jetzt eskalieren lässt", sagt Borcak.

Wovor haben die Bosniaken Angst?

Die Angst bei den Bosniaken sei groß. "Es gab schon mehrere Genozide gegenüber Bosniaken, fast immer durch serbische Nationalisten", erinnert sie. Dodik wolle den Teil, aus dem die Bosniaken einst vertrieben wurden, nun juristisch, militärisch und steuerlich abspalten. "Die Armee, die er zu errichten plant, wäre eine Wiederauferstehung der Armee, die in den 90er Jahren dafür verantwortlich war, dass in einem Land, das kleiner als Berlin ist, mindestens 105.000 Menschen gestorben sind", betont sie.

Vor allem die Bosniaken, die in die Region Srpska zurückgekehrt seien, aus der sie selbst oder ihre Familien vertrieben wurden, fürchteten sich sehr. "Manche sind bereits bei ihren Familien in anderen Landesteilen untergekommen", berichtet die Journalistin.

Treffen von Staatsvertretern

Neben der mehrheitlich von bosnischen Serben bewohnten Entität "Republika Srpska" gliedert sich das Land noch in die mehrheitlich von Bosniaken und Kroaten bewohnte Förderation Bosnien und Herzegowina sowie den kleine Distrikt Brcko, der ein Sonderverwaltungsgebiet ist.

"Die Bosniaken sind beunruhigt darüber, dass diverse Treffen mit Vertretern aus Serbien und Kroatien stattgefunden haben, die an ihnen vorbeigehen. Sie befürchten, dass die bosnischen Serben, Kroatien und Serbien sich auf etwas einigen könnten, was ihre Interessen verletzt", erklärt Calic.

Wie verhalten sich die Nachbarländer?

"Serbien leistet gegenüber den bosnischen Serben eine gewisse moralische Unterstützung, es gibt gemeinsame Sitzungen und Treffen", sagt Calic. Offen sabotiere Serbien den Vertrag von Dayton allerdings nicht, denn das Land stehe mit der EU in Beitrittsverhandlungen.

Borcak aber sagt: "Der Präsident Serbiens, Aleksandar Vucic, ist ein ultranationalistischer Genozid-Leugner, aber ein Wolf im Schafspelz. Er sagt nicht offen, dass er Dodiks Pläne unterstützt." Dodik wird ein enges Verhältnis zu Vucic nachgesagt, auch mit Kreml-Chef Wladimir Putin soll er sich bestens verstehen.

Dodik leugnet Pläne

"Dodik hat tausendfach gesagt, dass er sich abspalten und später an Serbien angliedern will", sagt Borcak. Im Interview mit dem "Spiegel" hatte er das zuletzt geleugnet. "Er ändert seine Aussagen je nachdem, wie es ihm gerade passt", kommentiert Borcak.

Auch Kroatien arbeite mit den serbischen Nationalisten zusammen, Russland fordere ebenfalls, dass das Amt des Hohen Repräsentanten abgeschafft wird. Im Friedenimplementierungsrat hatte Russland zuletzt nicht zugelassen, dass Schmidt vor den Vereinten Nationen spricht.

Was sollte die Europäische Union tun?

Zuletzt war auch der ungarische Präsident Viktor Orban nach Bosnien gereist, um dort seine Solidarität mit den bosnischen Serben auszudrücken. "Das zeigt das Dilemma der EU: Sie ist gespalten und kann nicht mit einer Stimme sprechen", analysiert Calic. Ohne eine gemeinsame Linie sei die EU meist ineffektiv gewesen. "Sie ist nur dann schlagkräftig, wenn sie mit den Amerikanern und Russen an einem Strang zieht", sagt die Expertin.

Die internationale Politik müsse kritisch hinterfragen, was in den letzten Jahren in Bosnien schiefgelaufen ist. "In Afghanistan hat sich bereits gezeigt, dass man von oben herab kein erfolgreiches Nation-building betreiben kann, ein bisschen ist es auch in Bosnien so", sagt Calic.

Debatte erst nach Jahrzehnten

Auch Borcak sagt: "Die EU hätte schon vor Jahren härtere Sanktionen verhängen müssen. Der hohe Repräsentant hätte Dodik bereits absetzen können." Dodik sei gefährlich, aber es gehe ihm vor allem um seine eigene Macht und sein eigenes Geld. "Man könnte ihn also leicht ausbremsen", mutmaßt sie.

Noch etwas hält sie für notwendig: eine Debatte auch außerhalb Bosniens. "In Deutschland wurde 20 Jahre lang verpasst, über das Thema zu reden", prangert die Journalistin an. Nun sei es schwierig, Verständnis bei Publikum und Politik zu bekommen. "Es gibt immer das Narrativ von 'dem' Jugoslawienkrieg. Aber der Bosnienkrieg war kein Bürgerkrieg, sondern ein Angriffskrieg von Serbien. Das muss endlich verstanden werden."

Über die Expertinnen: Prof. Dr. Marie-Janine Calic lehrt Ost- und südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen neben der allgemeinen Geschichte Südosteuropas, und der Geschichte Jugoslawiens und seiner Nachfolgestaaten auch ehnische Minderheiten und nationale Frage auf dem Balkan sowie Konfliktprävention, Wiederaufbau und internationale Friedenssicherung.
Melina Borcak ist eine bosnische Journalistin und Filmemacherin. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Völkermord, muslimischer Feminismus und antirassistische Medienanalyse.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Prof. Dr. Marie-Janine Calic
  • Interview mit Melina Borčak
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