Die Hölle beginnt in der eigenen Wohnung. Hunderttausende Frauen in Deutschland erleben Gewalt durch den eigenen Partner oder Ex-Partner. Alle zwei bis drei Tage kommt in Deutschland ein Mensch durch häusliche Gewalt ums Leben. Es sind erschreckende Zahlen, die Familienministerin Franziska Giffey mit der neuen BKA-Studie offenlegt.
Ein Mann lauert seiner Ex-Freundin in der Tiefgarage auf. Er rammt ihren Wagen, schlägt die Scheiben ein, im Auto sitzt auch der gemeinsame Sohn. Auf beide sticht der Vater mit einem langen Küchenmesser ein, wieder und wieder. Kurz darauf sind sie tot. So geschehen in Baden-Württemberg.
In Saarbrücken platzt ein Mann in eine Familienfeier. Es ist seine eigene Familie, die hier unbeschwert zusammensitzt. Der 59-Jährige wohnt nicht mehr hier, zur Feier ist er nicht eingeladen. Als er reinkommt, fängt er sofort an zu schießen, tötet Sohn und Schwiegersohn.
Beides Fälle ereigneten sich in diesem Jahr. Jeden Tag versucht im Schnitt ein Mann, seine Frau, Lebensgefährtin oder Ex zu töten.
Jeden zweiten bis dritten Tag stirbt ein Opfer häuslicher Gewalt
Jeden zweiten bis dritten Tag im vergangenen Jahr starben Opfer, wie Daten des Bundeskriminalamts zeigen. Es sind Zahlen, die entsetzen. "Das ist in einem modernen, fortschrittlichen Land wie Deutschland eine fast unvorstellbare Größenordnung", sagt Frauenministerin Franziska Giffey (SPD).
Der jüngste Fall könnte sich am Wochenende im fünften Stock eines Jenaer Wohnhauses abgespielt haben. Nach derzeitigem Ermittlungsstand tötete ein Mann seine Ex-Partnerin und deren neuen Freund. Und sein eigenes Kind, einen Säugling, erst drei Wochen alt.
Oft werden solche Fälle als Familiendrama beschrieben. Als sei es Sache der Familie, wenn der Mann seine Frau oder die Kinder tötet oder auch nur angreift. Eine rein private Tragödie.
Doch es ist so viel mehr. Gewalt in der Beziehung ist in Deutschland alltäglich.
Nur jeder Fünfte wendet sich an Behörden
Nicht immer geht es bis zum Tod, doch Misshandlung, schwere Verletzungen und sexuelle Nötigung erleben Hunderttausende Menschen in Deutschland - zu Hause, in ihrer Beziehung, durch einen Partner, den sie einmal liebten oder noch immer lieben.
Rund 138.000 Fälle wurden im vergangenen Jahr angezeigt. Betroffen seien noch viel mehr, sagt Giffey. Nur jeder Fünfte wende sich überhaupt an die Behörden, viele schwiegen aus Angst, doch auch aus Scham. Geschlagen und misshandelt zu werden, passt nicht zum Selbstbild einer modernen, starken, selbstbewussten Karrierefrau.
In den allermeisten Fällen sind die Opfer der Statistik zufolge Frauen, 113.965 genau zählte das BKA für 2017. Für sie ist das eigene Zuhause ein gefährlicher Ort. "Die eigenen vier Wände können für viele Frauen und manche Männer zur Hölle werden", sagt Justizministerin Katarina Barley (SPD).
Wenn sie von einem Menschen aus dem engsten Umfeld stammten, seien seelische und körperliche Verletzungen besonders schlimm. "Dem zu entkommen, sich selbst und oft auch die eigenen Kinder zu schützen, ist unendlich schwer."
Täter kommen aus allen sozialen Schichten
Was sind das für Männer, die in einer Partnerschaft schlagen, misshandeln, vergewaltigen, gar töten? Die meisten sind den Angaben zufolge noch recht jung, 30 bis 39 Jahre alt.
Zwei von drei Verdächtigen im vergangenen Jahr hatten einen deutschen Pass. "Sie kommen aus allen sozialen Schichten", sagt Julia Reinhardt, die stellvertretende Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt.
Menschen mit schlechten Schulabschlüssen und ohne Job sind genauso darunter wie Hochgebildete, Manager, Professoren. "Es hat mit dem Einkommen nichts zu tun", sagt Reinhardt. Giffey weist jedoch darauf hin: Generell sei die Gefahr höher, wenn Alkohol, Geldsorgen und psychische Probleme im Spiel seien.
Beziehungsmuster übernehmen viele von den Eltern
Wie sie mit ihren Partnerinnen umgingen, lernten viele Männer schon von den eigenen Eltern, sagt Reinhardt. Sie arbeitet in der Bewährungshilfe, hat mit Tätern gesprochen und zwei Typen ausgemacht.
Die einen sind Männer, die glauben, ihre Frau kontrollieren zu können. Sie halten an alten Rollenmustern fest, die in Deutschland eigentlich seit Jahrzehnten überwunden sein sollten: Der Mann dominiert, diktiert, die Frau kuscht. Solche Männer hätten auch nach einer grausamen Tat wenig Motivation, ihr Verhalten zu ändern. Sie handelten systematisch, demütigten ihre Partnerinnen über Jahre, um sie klein und gefügig zu halten.
Doch auch in scheinbar gleichberechtigten Partnerschaften herrscht Gewalt, besonders in Situationen, die der Täter als Krise empfindet: Trennungen, Scheidungen, ein neuer Partner - auch wenn er selbst es war, der Schluss machte und die Frau verließ. Plötzlich ist sie vielleicht schwanger von einem anderen Mann, zum ersten Mal sieht man das Bäuchlein - und der frühere Partner rastet aus.
Man spreche von "finaler Bankrottsituation des Täters", sagt Reinhardt. Eine Übersprungshandlung, ein emotionaler Ausnahmezustand. Zufällig passiere so etwas aber nie, betont die Expertin. "Die Entscheidung zur Gewalt wird gefällt."
350 Frauenhäuser reichen nicht aus
Doch was kann man tun, um den Frauen zu helfen? 350 Frauenhäuser bieten ihnen in Deutschland Zuflucht. "Das reicht nicht", räumt Giffey ein. Im nächsten Jahr soll ein Aktionsprogramm starten, 2019 und 2020 sollen zusammen mehr als 40 Millionen Euro fließen, damit Kommunen und Länder ihre Hilfsangebote verbessern.
Schon jetzt gibt es ein Hilfetelefon (+49 8000 116 016), rund um die Uhr und in 17 Sprachen. Die meisten Anrufe kämen zwischen 18 Uhr abends und 8 Uhr morgens, viele mitten in der Nacht, sagt Leiterin Petra Söchting. Auf der Telefonrechnung tauche das Gespräch nicht auf.
Am wichtigsten sei es, dass die Frauen das Muster durchbrechen und in ihrer nächsten Partnerschaft nicht wieder Gewalt erlebten, sagt Reinhardt. Kinder müssten lernen, dass das Verhalten ihres Vaters falsch sei. Denn Mädchen wählten ihre Partner oft nach dem Vorbild des Vaters - und Jungen trügen dessen Verhalten in die eigene Familie weiter. © dpa
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.