Von "Straßenkrieg" und "Bürgerkrieg" sprechen einige Medien bereits: Die Ereignisse in den USA in der vergangenen Woche machen für jedermann sichtbar, wie sehr das Thema Rassismus noch immer die amerikanische Gesellschaft beschäftigt. Henning Riecke ist Leiter des Programms "USA/Transatlantische Beziehungen" bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Im Interview mit unserer Redaktion erklärt er, warum ein Vergleich mit den Unruhen in Los Angeles von 1992 gefährlich ist, und weshalb ein schärferes Waffengesetz keine Lösung für die Gewalt auf amerikanischen Straßen bringt.

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Herr Riecke, warum sterben so viele dunkelhäutige Menschen in den USA bei Polizeikontrollen?

Doktor Henning Riecke: Man kann die Gründe in zwei Richtungen untersuchen. Auf der einen Seite sind Farbige und Afroamerikaner in der amerikanischen Gesellschaft immer noch schlechter gestellt. Das ist eine Art institutionalisierter Rassismus.

Es ist zum Beispiel schwerer für Schwarze, aus sozial schwierigen Situationen herauszukommen. Es ist schwerer, eine gute Ausbildung zu bekommen und das Geld dafür aufzubringen. Es ist schwerer, in gute Jobs zu kommen und den sozialen Aufstieg zu schaffen. Das bedeutet, dass an den Stellen, an denen Polizisten mit potentiellen Kriminellen zusammenstoßen, häufiger Afroamerikaner und Schwarze beteiligt sind - und zum Beispiel in einem überprüften Auto sitzen.

Welche Ursache für die vielen dunkelhäutigen Todesopfer sehen sie noch?

Die andere Richtung ist die, dass die Polizisten natürlich einem bestimmten Täter-Profil nachhängen - und sich tatsächlich eher Farbige und Schwarze für ihre Kontrollen aussuchen. Vorurteile und Stereotype darüber, wie Gangmitglieder und Kriminelle aussehen, bilden sich in diesem Täter-Profil ab.

Schwarze stehen grundsätzlich stärker unter Verdacht als Weiße. Hinzu kommt, dass ein amerikanischer Polizist unter einem hohen Druck steht. In einem Land, in dem sich jeder eine Waffe kaufen kann, muss er immer damit rechnen, selber verwundet oder getötet zu werden.

Handeln die Polizisten also eher aus begründeter Angst oder aus Rassismus?

Ich würde sagen, Rassismus und Angst gehen Hand in Hand. Rassismus hat schon immer Stereotype geschaffen, die Bezugspunkte für Angst sind. Und Angst sorgt dafür, dass man diese Stereotype nicht auflösen kann, das hängt eng miteinander zusammen.

In diesem Wechselspiel ist offensichtlich eine Art Feindbild gegenüber Schwarzen entstanden, das natürlich eine Rolle spielt, wenn dann tatsächlich ein Auto angehalten wird. Und natürlich dürfte es auch in der Polizei vor Ort hie und da rassistische Strömungen geben, die die Situation noch verschärfen - das lässt sich wegen der lokalen Organisation der Polizei aber nicht verallgemeinern.

Könnten schärfere Waffengesetze daran grundsätzlich etwas ändern?

Wir Deutschen halten ja immer eine Verschärfung der Waffengesetze für die Lösung der Probleme in der amerikanischen Gesellschaft. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass eine solche Maßnahme schnell am Problem der Polizeigewalt etwas ändern würde. In den USA sind circa eine halbe Milliarde Handfeuerwaffen im Umlauf. Wenn neue Gesetze kämen, wären die ja immer noch da.

Zudem ist es eine absolute Illusion zu glauben, dass in den USA jemals die Freiheit, Waffen zu tragen, so eingeschränkt wird wie bei uns. Davon kann man nur träumen. Die Diskussion um veränderte Waffengesetze in den USA dreht sich eher um Details, etwa ob durch Hintergrundüberprüfungen psychisch kranke Menschen von Waffen ferngehalten werden sollten. Oder um die Frage, ob man eine Waffe versteckt tragen darf - oder sie offen zeigen muss. Diskutiert wird, ob es zur Freiheit auch gehört, halb- oder sogar vollautomatische Kriegswaffen zu besitzen. Das wird von den Bundesstaaten unterschiedlich gehandhabt. Man kann dieses Land nicht einfach entwaffnen.

Was müsste man dann tun?

Es gibt in der Polizeiarbeit Freiräume, die geschlossen werden können. Es gibt eine große Toleranz für den Polizisten im Einsatz. Die ist verständlich, weil das Leute sind, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um Verbrechen zu bekämpfen. Aber diese Toleranz führt auch oft dazu, dass nur sehr wenige der Fälle, die an die Öffentlichkeit gekommen sind, überhaupt zu einer Bestrafung geführt werden. Die Fälle, sogar Tötungen von Unbewaffneten, werden untersucht und dann werden die Vorwürfe oft fallen gelassen.

Hier muss sich etwas ändern. Sinnvoll könnte zum Beispiel der Einsatz neuer technischer Möglichkeiten sein, etwa Kameras, die die Arbeit der Polizisten dokumentieren. Aber viel wichtiger wäre eine Veränderung des Bewusstseins.

Einige Medien sprechen bereits von "Straßenkrieg" bzw. "Bürgerkrieg". Inwiefern ist diese Wortwahl berechtigt?

Ich glaube nicht, dass diese Wortwahl berechtigt ist, weil die Proteste, die sich gegen diese Art von Polizeibehandlung landesweit formieren, von Leute getragen werden, die Sicherheit wollen, Gerechtigkeit und eine funktionierende Strafverfolgung. Die wollen ein Ende der Ungleichbehandlung von Farbigen und Schwarzen durch die Polizei. Dafür protestieren sie friedlich.

Dass dann einige sich radikalisieren und zur Waffe greifen, darf nicht davon ablenken, dass diese Proteste berechtigt sind. Wenn die Medien jetzt anfangen, von Krieg zu reden, setzt man die friedlichen Demonstranten und die Gewalttäter in eine Ecke - und genau das sollten wir nicht tun.

Ist die momentane Lage vergleichbar beispielsweise mit den Rassen-Unruhen in Los Angeles von 1992, die ja auch einen nachvollziehbaren Anlass hatten?

Nochmals, diese Vergleiche führen nirgendwohin und sind auch gefährlich. Denn sie diffamieren die in der Mehrzahl friedlichen Demonstranten, die für ein berechtigtes Anliegen auf die Straße gehen. Natürlich ist die Sorge da, dass die Wut sich aufstauen und in noch mehr Gewalt entladen könnte, wie wir das ja zum Teil in Ferguson im letzten Jahr erlebt haben.

Aber die Perspektive muss jetzt auf einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA liegen - und nicht auf einer Eskalation, die Zuschreibungen wie "Rassen-Krieg" ja schon beinhalten. Historische Vergleiche führen nicht weiter. Und ich glaube nicht an eine Eskalation, weil in der amerikanischen Gesellschaft auch viele Weiße inzwischen begreifen, dass die Ungleichbehandlung aufhören muss. Es gibt politische Prozesse und eine Zivilgesellschaft, die sich des Themas annimmt.

Der Amerika-Experte Doktor Henning Riecke ist seit Januar 2009 Leiter des Programms USA/Transatlantische Beziehungen bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.
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