• Tausende Afghanen wollen sich nach der Machtübernahme der Taliban in Sicherheit bringen.
  • Am Flughafen in der Hauptstadt Kabul liegen die Nerven blank. Es geht für viele Menschen ums Überleben.
  • Denn die Taliban sind auf der Suche - nach vermeintlichen Kollaborateuren.

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In Afghanistan wachsen Angst und Verzweiflung. Tausende Afghanen und ausländische Staatsbürger hoffen immer noch auf eine Gelegenheit, sich nach der Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban mit westlichen Flügen in Sicherheit zu bringen. Clarissa Ward vom US-Sender CNN beschrieb herzzerreißende Szenen in der Hauptstadt Kabul und sprach vom "Überleben der Stärksten." Auf dem Weg zum Flughafen erlitt ein Deutscher, ein Zivilist, eine Schussverletzung. Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer sagte am Freitag in Berlin: "Er wird medizinisch versorgt, es besteht aber keine Lebensgefahr."

Zuvor hatte eine Beraterin der afghanischen Mission bei den Vereinten Nationen in den USA auf Twitter geschrieben, einem Familienmitglied sei am Donnerstag am Flughafen Kabul in den Kopf geschossen worden.

Die Taliban suchen laut einem für die Vereinten Nationen erstellten Bericht gezielt nach vermeintlichen Kollaborateuren. In dem vertraulichen vierseitigen Bericht des RHIPTO Norwegian Center for Global Analyses, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, heißt es, dem größten Risiko seien Menschen ausgesetzt, die wichtige Positionen im Militär, der Polizei oder anderen Ermittlungsbehörden eingenommen hatten. Die Beteuerungen der Taliban, keine Vergeltungsaktionen vornehmen zu wollen, hält der Leiter der Denkfabrik, Christian Nellemann, nicht für glaubhaft. "Sie versuchen einfach, die Leute an Ort und Stelle zu halten, um sie festnehmen zu können", so Nellemann.

Human Rights Watch: Berichte über "standrechtliche Hinrichtungen" durch die Taliban

Mehrere Vertreter der bisherigen afghanischen Regierung werden einem lokalen Medienbericht zufolge vermisst. Der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) liegen nach eigenen Angaben Berichte über "standrechtliche Hinrichtungen" durch die Taliban vor. Bei den mutmaßlichen Opfern handele es sich um frühere afghanische Regierungsmitarbeiter und Sicherheitskräfte, sagte die Vizedirektorin für HRW in Asien, Patricia Gossman.

Trotz aller Gefahren hielt der Ansturm von Menschen, die auf das Flughafengelände in Kabul gelangen wollen, den fünften Tag in Folge an. Taliban-Kämpfer feuerten am Eingang zum zivilen Teil des Flughafens in die Luft und schlugen mit Peitschen, um die Leute zu vertreiben, wie ein Augenzeuge der Deutschen Presse-Agentur sagte. Am Flughafen gibt es einen zivilen und einen militärischen Bereich. Die Menge am Zugang zum militärischen Teil sei groß und unberechenbar, berichtete ein Reporter des US-Senders CNN. Bilder zeigten, wie US-Soldaten in die Luft schossen, um die Menschen zurückzudrängen.

Auf einem Videoclip, der sich am Freitag in sozialen Medien und in US-Medien verbreitete, war zu sehen, wie aus einer Menschenmasse ein Baby über eine Mauer mit Stacheldraht an US-Militärs übergeben wurde. Ein Soldat packte das Baby am rechten Arm und reichte es an Kollegen weiter. Ein Sprecher der US-Marineinfanteristen erklärte, der Soldat in dem Clip sei ein Mitglied einer ihrer Einheiten. Das Baby sei zu einer medizinischen Station auf dem Gelände gebracht worden und werde dort von Gesundheitspersonal versorgt. Zu den Umständen der Szene - etwa dazu, was mit den Eltern des Kindes ist - äußerte sich der Sprecher auf Anfrage zunächst nicht weiter.

Deutsche Botschaft: "Die Lage am Flughafen Kabul ist äußerst unübersichtlich"

In einem Schreiben der deutschen Botschaft an Menschen, die auf einen Flug hoffen, hieß es am Freitag: "Die Lage am Flughafen Kabul ist äußerst unübersichtlich. Es kommt an den Gates immer wieder zu gefährlichen Situationen und bewaffneten Auseinandersetzungen. Der Zugang zum Flughafen ist derzeit möglich. Zwischendurch kann es aber immer wieder kurzfristig zu Sperrungen der Tore kommen, auch weil so viele Menschen mit ihren Familien versuchen, auf das Gelände zu kommen."

Die USA wollen eigentlich bis zum 31. August den Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan abschließen. Vom Schutz durch die derzeit 5200 US-Soldatinnen und -Soldaten hängen aber die Evakuierungseinsätze anderer Streitkräfte wie der Bundeswehr ab. US-Präsident Joe Biden geht davon aus, dass zwischen 50 000 und 65 000 Menschen von den USA in Sicherheit gebracht werden wollen. Möglicherweise bleiben auch über Ende August hinaus US-Truppen in Kabul - sicher ist das nicht.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte nach einer Videokonferenz mit den Außenministern der Bündnisstaaten, die USA hätten signalisiert, dass ihr Zeitplan am 31. August ende. Mehrere Alliierte hätten sich für die Möglichkeit einer Verlängerung des Einsatzes ausgesprochen. Es gehe darum, mehr Leute aus dem Land zu bringen. Nach Angaben von Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) nutzen die USA auch ihren großen Militärstützpunkt im pfälzischen Ramstein als Drehkreuz für die Evakuierung von Schutzsuchenden aus Afghanistan.

Die Bundeswehr hat Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) zufolge bislang mehr als 1700 Menschen über eine Luftbrücke in Sicherheit gebracht. Es ist der bislang größte Evakuierungseinsatz der Bundeswehr. Die US-Streitkräfte flogen seit Samstag dem Pentagon zufolge 7000 Menschen (Stand Donnerstag/Ortszeit) ins Ausland. Am Sonntag hatte der afghanische Präsident Aschraf Ghani fluchtartig das Land verlassen. Wenige Stunden später nahmen die Taliban kampflos Kabul ein. Seitdem sind sie die neuen Machthaber in Afghanistan. (dpa/fra)

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