Berichten der Vereinten Nationen zufolge versucht die Terrormiliz "Islamischer Staat" die irakische Armee im Kampf um Falludscha mit "menschlichen Schutzschilden" aufzuhalten. Wie dramatisch die Situation in der Stadt ist und ob der sogenannte "Islamische Staat" Falludscha aufgeben wird – Antworten eines Nahost-Experten.

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Die Lage der Zivilbevölkerung ist dramatisch. Zehntausende Menschen sind in der umkämpften irakischen Stadt Falludscha eingeschlossen. Die Vereinten Nationen befürchten, dass die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) bis zu 400 Familien als menschliche Schutzschilde missbrauche. Es gebe "glaubwürdige Informationen", heißt es, wonach die Dschihadisten Familien ins Zentrum von Falludscha brächten und diesen nicht erlaube, die "Sammelplätze zu verlassen".

Offenbar sollen durch diese Maßnahme strategisch wichtige Punkte gegen die anrückende irakische Armee verteidigt werden. Wie dramatisch die Situation in der Stadt ist, wie die irakische Armee vorgeht und ob Falludscha nun fällt? Wir haben mit dem Nahost-Experten Dr. Udo Steinbach gesprochen.

Wie dramatisch ist die Situation in Falludscha?

"Klar ist, dass die irakischen Truppen zum Angriff übergegangen und in die Stadt eingedrungen sind", sagt Steinbach. Das Ganze sei ebenso dramatisch wie bei vorangegangenen Kämpfen zwischen der irakischen Armee und dem sogenannten "Islamischen Staat", erklärt der Islamwissenschaftler und vergleicht: Der IS tue das, was Saddam Hussein unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Golfkrieges nach der Besetzung von Kuwait getan habe.

"Diese Geiselnahme zeigt natürlich auch die Schwäche des IS. Rein militärisch ist dieser zu einer Abwehr des Angriffes offenbar nicht mehr in der Lage und muss deshalb auf solche Mittel zurückgreifen", meint er.

Steinbach erklärt, dass jedoch beide Seiten brutal vorgingen. Massive Vertreibungen und Übergriffe auf religiöse Minderheiten wie seinerzeit, als der IS im Irak einfiel, werde es diesmal nicht geben, meint er.

Ein Unsicherheitsfaktor seien jedoch die schiitischen Milizen, die mit der irakischen Armee angreifen, aber nur schwer zu kontrollieren seien. "Die Milizen haben zugegeben", schildert Steinbach, "dass es ihrerseits Übergriffe gegen die sunnitisch-irakische Bevölkerung gab."

Warum gelang es dem IS, sich in Falludscha einzunisten?

Der Überraschungseffekt sei vor zwei Jahren entscheidend gewesen. "Niemand war auf diesen "IS" vorbereitet. Dann kamen die Horden mit einem Mal daher", erklärt der Nahost-Experte. "Die irakische Armee ist damals Hals über Kopf geflohen, war seinerzeit völlig unvorbereitet, so dass selbst wichtiges militärisches Gerät in die Hände des IS fiel."

Jetzt aber hätten sich die Iraker Zeit genommen, "um ihre Armee zu verbessern und diese offenbar auch psychologisch auf die besondere Art der Kriegsführung vorzubereiten".

Wie agiert die irakische Armee nun?

"Sie ist natürlich in der Offensive, sie kann nicht anders", sagt Steinbach. Demnach könne die irakische Armee gar keinen Rückzug antreten, ohne großen psychologischen und politischen Schaden zu erleiden. Zudem werde sie ziemlich unverhohlen von den Amerikanern unterstützt, erklärt er, "die sowohl aus der Luft angreifen, als auch Ausbilder schicken. Und diese Ausbilder scheinen ihre Arbeit ziemlich effizient zu verrichten".

Inwieweit der Iran verwickelt sei, darüber könne nur spekuliert werden. Aber: Wenn amerikanische Berater der irakischen Armee helfen, sagt er, "wird das nicht ablaufen, ohne dass die iranischen Behörden zumindest informiert sind."

Wird der IS Falludscha jetzt aufgeben?

Ja, meint Steinbach, die Stadt werde wieder an die irakische Regierung fallen. Dann sei das nächste große Ziel angesagt: Die Rückeroberung Mossuls. "Die Vermutung liegt nahe", sagt er, "dass sich die militärische Situation für den sogenannten Islamischen Staat auf irakischem Boden insgesamt verschlechtert hat."

Dr. Udo Steinbach, Jahrgang 1943, ist Doktor der Islamkunde. 1975 leitete der Wissenschaftler die Redaktion der Deutschen Welle in der Türkei, zwischen 1976 und 2006 war er Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg und bis Januar 2008 Direktor des GIGA-Instituts für Nahoststudien, ebenfalls in Hamburg.
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