In Kabul töten Terroristen bei einem verheerenden Anschlag über 90 Menschen, über 400 werden verletzt. Nun setzt die Bundesregierung die Abschiebungen nach Afghanistan vorerst aus. Ein überfälliger Schritt, denn die bisherige Begründung ist falsch, sie ist zynisch. Sie signalisiert selbstgefällige Unmenschlichkeit.

Ein Kommentar
von Michael Wollny
  • 11. Dezember 2014: "Tote bei Terrorangriff auf französische Schule in Kabul"
  • 7. August 2015: "Acht Tote und fast 200 Verletzte bei Anschlag in Kabul"
  • 30. November 2015: "US-Botschaft warnt vor schwerem Anschlag in Kabul"
  • 1. Januar 2016: "Anschlag auf Restaurant in Kabul"
  • 4. Januar 2016: "Viele Opfer bei Anschlägen in Kabul"
  • 1. Februar 2016: "Selbstmordanschlag während de Maizières Besuch in Kabul"
  • 19. April 2016: "Mehr als 300 Verletzte nach Explosion in Kabul"
  • 23. Juli 2016: "Dutzende Tote bei IS-Anschlag in Kabul"
  • 1. August 2016: "Taliban verüben Anschlag auf Hotel in Kabul"
  • 5. September 2016: "24 Tote bei Selbstmordanschlag in Kabul"
  • 6. September 2016: "Tote und Verletzte nach Angriff auf Hilfsorganisation in Kabul"
  • 21. November 2016: "Explosion in Kabul - viele Tote und Verletzte"
  • 10. Januar 2017: "Rund 50 Tote bei Anschlägen in Kabul"
  • 7. Februar 2017: "Viele Tote bei Anschlag in Kabul"
  • 31. Mai 2017: "Deutsche Botschaft bei Anschlag massiv beschädigt - Dutzende Tote"

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Diese Schlagzeilen sind – und das muss betont werden – nur ein Auszug aus der jüngeren Chronologie des Terrors und Tötens in Afghanistan.

Alle Anschläge hier aufzulisten, hätte im makabersten Wortsinn das Format gesprengt.

Apropos Zynismus:

Klingen diese Schlagzeilen für Sie nach Sicherheit?

Vermitteln sie Ihnen ein Gefühl von Normalität?

Fänden Sie ein Leben in ständiger Todesgefahr erträglich?

Wohl kaum.

Afghanistan ist nicht sicher!

In weiten Teilen Afghanistan bekämpfen sich Regierungstruppen und radikalislamische Taliban. Immer wieder gibt es schwere Anschläge mit hohen Opferzahlen.

Auch der sogenannte "Islamische Staat" mordet am Hindukusch.

Afghanistan ist nicht sicher, weder in Masar-i-Sharif noch in Kundus und schon gar nicht in Kabul.

Dieser Tatsache trägt die deutsche Bundesregierung nun endlich Rechnung und setzt die Abschiebungen vorerst aus. Die Sicherheitslage soll neu bewertet werden.

Ein längst überfälliger Schritt. Denn noch im Februar hatte der deutsche Bundesinnenminister erklärt:

"Auch in Kabul kann man nicht sagen, dass dort insgesamt die Lage so unsicher ist, dass man die Leute da nicht hinschicken könnte."

Das kann man in Kabul also nicht sagen? - Den 90 Opfern des gestrigen Anschlags muss man diese bittere Logik nicht mehr erklären. Sie sind tot.

Doch was ist mit den Angehörigen? Was mit den weit über 400 Verletzten?

Was ist mit den afghanischen Flüchtlingen in Deutschland, die Thomas de Maizière soeben noch so schnell wie möglich in den nächsten Flieger nach Kabul schicken wollte?

Noch während in der afghanischen Hauptstadt die Leichen abtransportiert wurden, hatte sich der Bundesinnenminister mit der Erklärung beeilt, dass sich an seinem Verständnis von Sicherheit nichts geändert habe.

Trotz blutiger Fotos, die das Grauen vor Ort in einer abstoßenden Scheußlichkeit dokumentierten, dass sie für eine journalistische Berichterstattung kaum zu verwenden waren.

De Maizières bisheriges Verständnis von Sicherheit basiert auf der grotesken Feststellung, dass die Terroristen nicht Zivilisten, sondern staatliche Einrichtungen ins Fadenkreuz nehmen würden.

So gnadenlos und erschreckend frei von Empathie argumentiert nur ein Technokrat im Angesicht der Opfer.

Der Terror ist allgegenwärtig

Seit Jahresbeginn gab es bereits acht schwere Anschläge in Kabul.

Doch dabei wurden nicht etwa nur Botschaftsfahnen angekokelt, Absperrungen zerstört und Sprengschutzwände beschädigt.

Es starben Menschen. Soldaten, Polizisten – und viele Zivilisten. Hunderte wurden verletzt.

Allein 2016 kamen bei Anschlägen in Kabul so viele Zivilisten ums Leben wie seit dem Bürgerkrieg in den 90er-Jahren nicht mehr.

Dass de Maizière den gestrigen Abschiebeflug stoppen ließ, war jedoch nicht etwa einem Gesinnungswandel durch Gewissen geschuldet, sondern zynischem Pragmatismus.

In der schwer beschädigten deutschen Botschaft in Kabul könne man sich gerade einfach nur nicht um die Abschiebungen kümmern, sagt er. Klar, man hatte Wichtigeres zu tun.

Das haben auch die Menschen in Afghanistan: Für sie ist es wichtig, einfach nur zu überleben.

"Wir wollen", verkündete Thomas de Maizière vor sechs Monaten in Brüssel, "dass in Afghanistan das Signal ankommt: Bleibt dort! Wir führen euch aus Europa direkt nach Afghanistan zurück!"

Das Signal kam an - mit jedem Abschiebeflug.

Es transportierte eine selbstgefällige Unmenschlichkeit, für die man sich schämen musste.

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