- In Afghanistan naht der Winter, doch in vielen Häusern sind die Vorratskammern leer.
- Um den Winter zu überstehen, greifen Familienoberhäupter zu drastischen Mitteln.
Nach fünf Monaten ohne Einkommen fand sich in Farid Chans zuhause in der Stadt Dschalalabad im Osten Afghanistans kein Korn Reis mehr, kein Tropfen Öl, kein Stück Brot. Der ehemalige Polizeisprecher der Provinz Nangarhar hatte seinen Kühlschrank, den Fernseher bereits verkauft. Er ging die Kontakte in seinem Telefon durch und schickte vor wenigen Tagen schließlich Bitten um Hilfe aus. "Meine Frau und ich können Strapazen und Hunger ertragen", schrieb er. "Aber meine kleinen Kinder nicht, und das tut mir so weh."
Mutter will aus der Not heraus ihre Kinder verkaufen
Wie Chan geht es mittlerweile Millionen Afghanen, und es werden immer mehr. Bereits vor dem Fall des Landes an die militant-islamistischen Taliban war die Lage prekär. Seitdem die Islamisten in Kabul das Sagen haben, der Großteil der ehemaligen Regierung ins Ausland floh, ausländische Hilfen und staatliche Reserven eingefroren wurden und darüber hinaus eine der schwersten Dürren seit Jahrzehnten das Land heimsucht, landeten weitere Hunderttausende Menschen in der Armut. Mit verheerenden Auswirkungen: UN-Angaben zufolge wird mehr als die Hälfte der Afghanen ab November nicht ausreichend zu essen haben.
Die Notlage führt dazu, dass Afghanen immer verzweifelter Lösungen suchen, wie sie ihre Familien über die Runden bringen. Die Geschichte der 55-jährigen Ruchschana aus der Provinz Ghor im Zentrum des Landes ging kürzlich durch viele lokalen Medien. Die Frau hatte öffentlich angekündigt, ihre zwei Enkeltöchter zu verkaufen. Für das Mädchen Sinat wolle sie 200.000 Afghani, für Saiba 150.000 Afghani (1.900 bzw. 1.450 Euro), erzählt sie am Telefon eines Verwandten. Sie müsse alleine für ihre Schwiegertochter und acht Enkelkinder sorgen und wisse nicht, wie die Familie sonst über den Winter komme.
Politische Umwälzungen im Land haben das Leben vieler auf den Kopf gestellt
Die politischen Umwälzungen im Land haben das Leben vieler auf den Kopf gestellt. Farsanah, eine 34-jährige Witwe aus Kabul, verlor mit der Machtübernahme der Taliban ihre Arbeit als Kindermädchen, als ihre Arbeitgeber das Land verließen. Omid Abdullah aus Wardak verlor seine Stelle als Koch, weil sein Chef - Kommandeur in der kollabierten Nationalarmee - von den Amerikanern ausgeflogen wurde. Enajat aus dem abgelegenen Bezirk Wachan im Nordosten des Landes wurde von seiner Familie mit geborgtem Geld nach Kabul geschickt, in der Hoffnung, er könne wenigstens in der Hauptstadt irgendwie zu Geld kommen.
Sie alle erzählen: egal was man versuche, es gäbe keine Arbeit mehr. Sie alle sagen, sie hätten mittlerweile Zehntausende Afghani Schulden bei Banken, Vermietern oder Händlern angehäuft. Und keine Ahnung, wie sie diese je zurückbezahlen sollen. Enajat hebt immer öfter nicht ab, wenn sein Vater aus der Provinz anruft und sich erkundigt, ob er Geld habe finden können. Viele verließen das Land, erzählt er weiter. Doch ihm fehle auch dafür das Geld.
Wirtschaftskrise und Hunger auch in den Straßen afghanischer Städte zu sehen
Die Wirtschaftskrise und der steigende Hunger ist mittlerweile auch in den Straßen afghanischer Städte zu sehen. Lokale Medien berichten, in Kabul seien wieder mehr auf Fahrrädern unterwegs. Einwohner der Hauptstadt erzählen, dass heute vor praktisch jeder Bäckerei in Kabul Menschen sitzen, die betteln. Gleichzeitig tauchten immer mehr auf, die versuchten, all ihre Habseligkeiten - von Möbeln bis hin zu Schrauben - auf der Straße zu verkaufen.
Niksad Omari aus Kabul erklärt, ihn erinnere das an das erste Taliban-Regime der 1990er-Jahre, auch damals sei die Lage schlimm gewesen. Seine Mutter habe zu der Zeit immer etwas Brot auf die Seite gelegt, um es für die Hühner zu trocknen. Er sei so hungrig gewesen, dass er sich immer zu dieser Stelle geschlichen habe, um heimlich davon zu essen. Er könne nicht glauben, dass er nun - mehr als 20 Jahre und Milliardenhilfen aus dem Ausland später, auch in den Agrarsektor des Landes - seine eigenen Kinder Hunger leiden sehe.
Afghanistan konnte in vergangenen Jahren Nachfrage nach Weizen nicht decken
Bereits in den vergangenen Jahren konnte Afghanistan die steigende Nachfrage etwa nach Weizen nicht decken und war auf Importe angewiesen. Die diesjährige Dürre wird Schätzungen zufolge die Eigenproduktion um fast ein Drittel einbrechen lassen. Das Getreide in den betroffenen Gebieten "zerfällt in den Händen wie Staub", erzählen Beobachter. Laut Weltbank hängt der Lebensunterhalt mehr als 60 Prozent aller Haushalte von der Landwirtschaft ab. Die Vorratskammern vieler Menschen auf dem Land sind in diesem Jahr leer.
Regierungen von Geberländern, darunter Deutschland, haben mit der Machtübernahme der Taliban die Entwicklungszahlungen an Afghanistan eingestellt und beschränken sich auf humanitäre Nothilfe. Deutschland habe als Teil eines Krisenpakets bis Jahresende 250 Millionen Euro in Afghanistan und für afghanische Flüchtlinge in den Nachbarländern bereitgestellt, sagt eine Sprecherin des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die Mittel setze man ohne Beteiligung der Taliban direkt mit Hilfsorganisationen um. Auch die USA haben zuletzt die Hilfen aufgestockt.
Islamisten zeigen Bereitschaft, die Bereitstellung humanitärer Hilfe zu ermöglichen
Die Islamisten, die angesichts eingefrorener Staatsreserven und einbrechender Steuereinnahmen ohnehin praktisch keinen Spielraum haben, haben bereits ihre Bereitschaft kundgetan, die Bereitstellung humanitärer Hilfe zu ermöglichen. Beobachter kritisieren, die aktuelle Beschränkung der Geberländer alleine auf Nothilfen löse die zugrunde liegenden Probleme der massiven humanitären und wirtschaftlichen Krise nicht.
Die Afghaninnen und Afghanen selbst haben wenig Hoffnung, dass sich ihre Lage demnächst bessert. Ruchschanas Plan, an Geld zu kommen, scheint aussichtslos. "Es gibt niemanden, der die Mädchen kaufen kann", sagt sie am Ende des Gesprächs. Farid Chan, der ehemalige Polizeisprecher, sagt: "Wir warten auf ein Wunder Gottes." (dpa/Veronika Eschbacher/mgb) © dpa
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