In sozialen Netzwerken wird anhand einer Studie behauptet, "99 Prozent der Afghanen wollen die Scharia". Der Behauptung fehlt nach einer Recherche von CORRECTIV.Faktencheck Kontext: Die Scharia beschreibt das Ideal einer religiösen Rechtsform. Sie umfasst Normen und Regeln für verschiedene Lebensbereiche und kann unterschiedlich ausgelegt werden.
Eine Studie zeige, dass 99 Prozent der Menschen in Afghanistan "die Scharia" zum Gesetz machen wollten, und eine andere, dass zwei Drittel der Muslime in Westeuropa religiöse Gesetze für wichtiger halten würden als "die Gesetze des Landes, in dem sie leben". Das verdeutliche die Gefahr, die mit der Migration von Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland verbunden sei. So wird es zumindest in sozialen Netzwerken behauptet.
Nach einer Recherche von CORRECTIV.Faktencheck basieren die Behauptungen auf zwei im Jahr 2013 erschienenen Meinungsumfragen, die in Fachkreisen umstritten sind. Wir haben mit mehreren Experten darüber gesprochen, die insbesondere betonten, dass es "die Scharia" also solches nicht gibt. Die Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) schreibt etwa, die Scharia sei kein Gesetzeswerk wie beispielsweise das Bürgerliche Gesetzbuch*. Scharia sei ein Oberbegriff für die Gesamtheit der Handlungsanweisungen, die Menschen im muslimischen Glauben auferlegt sind. Laut BPB kennt das islamische Recht (gemeint ist die Scharia) keine vereinheitlichte Form.
Umfragen beruhen auf umstrittenen Grundannahmen
In den Umfragen wurden damals Musliminnen und Muslime zur Scharia befragt. Es handelt sich zum einen um eine Meinungsumfrage des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center und andererseits um eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).
Die Meinungsumfrage des Pew Research Center kommt zu dem Schluss, dass 99 Prozent der muslimischen Bevölkerung in Afghanistan "die Scharia" zum offiziellen Gesetz des Landes machen wolle. Ein Islamwissenschaftler schrieb uns dazu, es sei wissenschaftlich nur seriös, "konkrete Fragen nach einzelnen Aspekten der Scharia zu stellen". Er halte die Fragestellung in der Studie des Pew Research Centers für verfehlt: "Sie beruht auf der unzutreffenden Grundannahme, dass 'die Scharia' insgesamt und zwingend im Gegensatz zu modernen menschenrechtlichen Konzepten steht."
Die zweite Studie, die in dem Facebook-Beitrag zitiert wird, ist eine Befragung, durchgeführt von dem laut Medienberichten umstrittenen Migrationsforscher Ruud Koopmans vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
Doch auch hier: Rami Ali, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, sagte uns, dass einige der Fragestellungen für eine solche Umfrage ungeeignet sind, da sie von den Befragten unterschiedlich interpretiert werden könnten. Wie repräsentativ die Umfrage war, ist ebenfalls fraglich: Es seien laut Rami Ali nur Muslime türkischer und marokkanischer Herkunft befragt worden. Weiter heißt es in Alis Stellungnahme: "Wir haben es in Wirklichkeit also mit einer spezifischen Gruppe von Einwanderern zu tun und keinesfalls einem methodisch sauberen Querschnitt, der Pauschalaussagen erlauben könnte."
Den Behauptungen fehlt demnach wichtiger Kontext: Die in dem Beitrag zitierten Meinungsumfragen gibt es zwar, doch beide Studien sind in fachlichen Kreisen umstritten – insbesondere weil sie nicht berücksichtigen, dass die Scharia unterschiedlich interpretiert wird und durchaus mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar sein kann.
*Korrektur vom 8. November 2021: In der ersten Version des Textes war "Bundesgesetzbuch" statt "Bürgerliches Gesetzbuch" zu lesen. Wir haben den Fehler korrigiert.
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