- Mit der Erstellung einer neuen Verfassung steht Chile vor einem wegweisenden Umbruch.
- Noch nie zuvor war so eine breite Bevölkerungsschicht an ihrer Entstehung beteiligt.
- Somit soll künftig nicht mehr nur die Elite politische Entscheidungen treffen.
In Chile geschieht gerade etwas ziemlich Seltenes: Mehr als 30 Jahre nach Ende der Pinochet-Diktatur entsteht eine neue Verfassung. Das Besondere daran: "Nie zuvor in seiner Geschichte gab es eine Beteiligung solch breiter Bevölkerungsteile an einem solch richtungsweisenden Prozess für das Land", sagt Marco Aurélio Peri Guedes, Adjoint-Professor für öffentliches Recht an der Universidade Federal Rural von Rio de Janeiro (UFRRJ). Guedes forscht zudem am interdisziplinären Laboratorium für Verfassungsrecht in Lateinamerika, LEICLA.
Seit der Unabhängigkeit 1810 waren es immer nur die politischen Eliten, die hinter verschlossenen Türen die Verfassungen entwarfen und politische Entscheidungen trafen, sagt Guedes. Und auch die Verfassung von 1980, die nun abgeschafft werden soll, wurde nur als ein Werkzeug einer liberal-konservativen Elite verstanden, um die Kontrolle über das Land zu wahren.
Revolte machte Druck und stieß den Prozess an
Kurzer Rückblick: 2019 provozierte die Regierung von Sebastián Piñera eine Revolte, indem sie Reformen ankündigte. Die Unruhen entzündeten sich unter anderem an der Ankündigung, die Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr zu erhöhen. In der Folge gingen Millionen Chilene auf die Straße und forderten wahre Reformen und eine neue Verfassung.
Die alte Verfassung stammt noch aus der Zeit des rechten Diktators Augusto Pinochet (1973-1990) und hatte eine neoliberale Politik zementiert, die den Chilenen allerhand Probleme und Nachteile bescherte – vom Trinkwasser über den Nahverkehr bis hin zu den Pensionskassen wurde im Geiste der Chicagoer Schule so ziemlich alles privatisiert, was nicht niet- und nagelfest war.
"Der Ausbau und die Modernisierung der Wirtschaft wurden nicht von Verbesserungen der sozialen Rechte begleitet", sagt Eduardo Manuel Val, Professor für Recht, Internationale Beziehungen und Menschenrechte an der Bundesuniversität von Niterói (UFF). Das Volk hatte also stets das Nachsehen.
Die Schere zwischen Arm und Reich tat sich auf, das Land verramschte seine Ressourcen und die Alten fanden sich nicht selten in der Altersarmut wieder. "Im Gegenteil: Das Modell verstärkte den Einfluss der Eliten, Unternehmer und Großgrundbesitzer und schloss die Mehrheit der Bevölkerung von den Vorteilen des Wirtschaftswachstums aus", erklärt Val.
Nach der Revolte folgte im Oktober 2020 ein Referendum. Dabei stimmten drei Viertel der Bevölkerung dafür, eine neue Verfassung zu erarbeiten.
Historische Chance alte Fehler zu beseitigen
Mit dem nun in Gang gesetzten Prozess, an dessen Ende eine neue Verfassung stehen soll, greifen die Chilenen nach der historischen Chance alte Fehler zu eliminieren und endlich eine Verfassung zu schaffen, die wahrlich vom Volk für das Volk gemacht wird. Am vergangenen Wochenende waren 15 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, aus 1374 Kandidaten die 155 Delegierten des Verfassungskonvents zu bestimmen.
17 Mandate wurden von vornherein Vertretern der indigenen Gemeinschaften zugesprochen – ein bislang einmaliger Vorgang in der chilenischen Geschichte. 37 Stimmen erhielt die Regierungskoalition Vamos, die damit nur ein knappes Viertel der Sitze im Konvent erhält und kaum eine Chance haben dürfte, den Reformprozess, auszubremsen.
28 Sitze gehen an die linke "Frente Amplio" aus kommunistischer Patei und Apruebo Dignidad. 25 Sitze erhält die Apuebo aus Democracia Cristiana Partido Socialista, Partido la Democracia und Partido Radical. Die eigentliche Überraschung war jedoch, dass 65 Sitze an unabhängige Kandidaten vergeben wurden.
Wird Chile zum sozialen Rechtsstaat?
"Nach fast 50 Jahren (Anmerkung des Autors: 1973 Begann die Pinochet-Diktatur) sieht es so aus, als wolle Chile einen Weg der Beteiligung großer Bevölkerungsteile hin zu einem sozialen Rechtsstaat gehen", sagt Guedes. "Gerade jetzt, in Zeiten einer allgemeinen geopolitischen Neuausrichtung."
Guedes sieht die Wahlen des vergangenen Wochenendes als hochgradig innovativ. "Das ist die erste verfassungsgebende Versammlung der Welt, paritätisch zu je 50 Prozent von Männern und Frauen besetzt und zugleich mit einer Quote von 17 Sitzen, die für indigenen Völker reserviert sind." Einen dieser Plätze wird Francisca Linconao vom Volk der Mapuche einnehmen.
Sie hatte den chilenischen Staat verklagt, weil dieser die klassischen indigenen Siedlungsgebiete der indigenen Völker nicht ausreichend schützte – und gewann. Daraufhin steckte man sie aufgrund falscher Anschuldigungen ins Gefängnis. "Dort wandelte sie sich zu einer der meistgewählten Repräsentanten der indigenen Völker", sagt Val.
Die traditionellen Parteien, die abwechselnd in der Vergangenheit regiert hatten, hatten an Bindung zum Volk verloren. 46 Prozent der Delegierten haben keine parteipolitische Bindung und das Durchschnittsalter der Repräsentanten liegt bei gerade mal 45 Jahren.
Experte: "Das ist das Gesicht einer neuen Generation"
"Das ist das Gesicht der Zukunft Chiles, einer neuen Generation, die die Führungspositionen des Landes besetzen wird", sagt Val. "Und es ist das Gesicht der Frauen, der Jungen und Angehörigen von Bevölkerungsteilen, die nie an der Regierung beteiligt waren."
"Die neue Verfassung bietet die Chance für Chile, sich selbst zu finden – mit einer echten Verfassung, einer Verfassung, von allen für alle", sagt Guedes.
"Ein politischer Reifungsprozess und ein schmerzhafter Weg, wie sich die demokratische Krise in vielen Ländern der Region zurzeit zeigt - wie auch in Brasilien - ist eine einmalige Gelegenheit die autoritären Strukturen, die so lange überdauerten, hinter sich zu lassen, Ressentiments mit Toleranz, Menschenrechten und dem Aufbau einer gleicheren und gerechteren Gesellschaft zu überwinden."
Die Verfassungsversammlung hat nun neun Monate Zeit, einen neuen Verfassungstext zu erarbeiten. Falls nötig, kann der Zeitraum um drei zusätzliche Monate verlängert werden.
2022 wird es dann ein weiteres Referendum geben, bei dem die Chilenen abstimmen dürfen, ob sie mit der neuen Verfassung in eine gerechtere und bessere Zukunft starten wollen.
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