Immer weniger Menschen engagieren sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit. Thomas Roßmann (59) ist seit fast zehn Jahren dabei, doch auch seine Motivation weicht mehr und mehr Frustration. Hier erzählt er, warum.

Ein Porträt
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie-Christine Sandler sowie ggf. von Expertinnen oder Experten. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Motivation

Herbst 2015. Zehntausende Menschen, die die Fahrt übers Mittelmeer überlebt und die Strapazen der sogenannten Balkanroute überstanden haben, kommen in Deutschland an. Um die Welt gehen Bilder vom Münchner Hauptbahnhof, wo unzähligen Freiwillige die Geflüchteten mit "Welcome"-Schildern, warmem Essen und Hygienebeuteln empfangen. Das Wort "Willkommenskultur" wird geboren.

Auch Thomas Roßmann aus Königsbrunn im Landkreis Augsburg will damals helfen. Mit rund 50 anderen findet er sich in einem Helferkreis zusammen, dem er heute zusammen mit einer anderen Freiwilligen vorsitzt. Roßmann gibt den Geflüchteten, die zumeist aus Syrien oder Afghanistan stammen, Sprachunterricht. Er erklärt, dass "hübsch" kein nützliches Wort ist, um eine Person detailliert zu beschreiben, und dass es nicht "Fußdaumen" sondern "Zehe" heißt. Er bemerkt, dass viele Frauen nicht zum Kurs kommen – weil sie niemanden für die Kinderbetreuung haben. Also kümmern sich die Freiwilligen darum. Zu helfen, fühlt sich gut an. Und Roßmann hat damals den Eindruck, dass die Gesellschaft sein Engagement wertschätzt.

Ein knappes Jahrzehnt später ist das anders. "Heute überlege ich, ob ich mein Ehrenamt im Lebenslauf wirklich erwähnen soll."

Frustration

Der Königsbrunner Helferkreis ist auf zehn bis zwölf Mitglieder geschrumpft. Zu den monatlichen Treffen kommen meist nur noch um die fünf. "Die Frustration ist brutal", sagt Thomas Roßmann, heute 59.

Was ihn frustriert? "Die Flüchtlinge sind gesellschaftlich und politisch nicht mehr gewollt, aber keiner will es ehrlich und offen sagen." Stattdessen würden die Menschen mit immer neuen Vorschriften gegängelt, die aus seiner Sicht an der Realität zuweilen völlig vorbeigehen – was dann wiederum die Freiwilligen ausbaden müssten. Die Behörden erlebt er als starr und teils überfordert. Aufgaben, die in seinen Augen der Staat übernehmen müsste, blieben an den immer weniger werdenden Ehrenamtlichen hängen.

Ein Beispiel: Vor einigen Wochen kamen sogenannte Kontingentflüchtlinge in die Stadt. Das sind besonders schutzbedürftige Menschen, die Deutschland in festgelegter Zahl (Kontingent) gezielt ins Land holt. Sie müssen kein Asyl beantragen, sondern reisen mit offiziellem Visum ein. Unter den Neuankömmlingen war auch ein Junge mit Bluterkrankheit, der zweimal wöchentlich Spritzen eines Medikaments benötigt, das den fehlenden Geninnungsfaktor in seinem Blut kompensiert. "Kein Arzt im Ort hat sich bereiterklärt, dem Kind die Spritzen zu geben, weil es nicht krankenversichert war", erzählt Roßmann. Für die Krankenversicherung jedoch braucht man eine Meldebescheinigung, um Leistungen beim Jobcenter beantragen zu können sind Aufenthaltsbestätigung und Bankkonto Voraussetzung. "Mit Wartezeiten für Termine dauert dieses Prozedere acht bis zwölf Wochen – so lange haben diese Menschen gar nichts." Der Helferkreis erreichte durch persönliches Engagement, dass der Junge doch noch ärztlich versorgt wurde. Roßmann arbeitet seither an einer Art Leitfaden für Kontingentflüchtlinge, der ihren Start in Deutschland erleichtern und beschleunigen soll. Seit Wochen sei er damit beschäftigt, das Papier mit Meldebehörde, Jobcenter, Ausländerbehörde, Krankenkassen und Banken abzustimmen. "Dass für Kontingentflüchtlinge andere Regeln gelten, als für andere Geflüchtete und Asylsuchende, war dort teilweise gar nicht bekannt."

Sind die Kommunen wirklich am Limit, wie es oft heißt?

  • Der Großteil der Städte und Gemeinden empfindet die Unterbringung Geflüchteter als herausfordernd, aber machbar. Rund 35 Prozent sehen sich am Limit, fünf Prozent gar im Notfallmodus. Das ist der Befund von Wissenschaftlern des Institus für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration, das im August und September rund 600 deutsche Kommunen online befragt haben.
  • Exemplarisch schildert Landrat Martin Sailer die Lage im Kreis Augsburg, zu dem auch Königsbrunn, die Heimat von Thomas Roßmann, gehört. Im Interview spricht er über schwindendes ehrenamtliches Engagement und Ängste in der Bevölkerung und erklärt, warum er sich zuweilen nicht wie der Leiter eines Landratsamtes, sondern wie der Chef einer Hausverwaltung vorkommt.

Fast in Rage redet sich Roßmann, als es um die Bezahlkarte für Geflüchtete geht, die Bayern im Juni eingeführt hat. Staatliche Geldleistungen bekommen die Geflüchteten seither auf der Bezahlkarte gutgeschrieben. Bar abheben können sie nur 50 Euro pro Person und Monat. Ein "Gängelinstrument", sagt Roßmann. Er kritisiert nicht nur, dass es sich bei der Bezahlkarte nicht um eine Girokarte, sondern eine Debit-Kreditkarte handelt, die viele Geschäfte nicht oder erst ab einem Mindesteinkaufswert akzeptierten. Online-Käufe sind nicht möglich. So können sich die Flüchtlinge zum Beispiel nicht länger via Ebay mit Gebrauchtwaren eindecken. Auch sei das Verfahren für Überweisungen viel zu kompliziert – sodass er die Ehrenamtlichen ebenfalls gegängelt sieht: Jede IBAN, auf die ein Flüchtling von der Bezahlkarte überweisen will, muss einzeln freigeschaltet werden. Für gewisse Freischaltungen ist der Freistaat zuständig, für andere das Landratsamt. "Zur Einführung haben die Flüchtlinge ein entsprechendes Schreiben bekommen, doch keiner hat den Inhalt verstanden", erzählt Roßmann. Folglich mussten er und seine Mitstreiter dafür sorgen, dass die Bankverbindungen der örtlichen Vereine, verschiedener Mobilfunkanbieter und anderer Unternehmen ihren Weg auf die Positivliste fanden. Welche Bankverbindungen bereits freigeschaltet sind, müsse aus Datenschutzgründen geheim bleiben. "Es hieß nur lapidar, die Leute müssten halt ausprobieren, ob eine Zahlung durchgehe oder nicht."

Vision

"Egal, wie viele Leistungen wir kürzen und wie sehr wir die Leute schikanieren – solange es in Deutschland keinen Krieg, keinen Hunger und keine Erdbeben gibt, aber ein dichtes Dach überm Kopf, geht es den Menschen hier noch immer viel besser, als in ihren Heimatländern", sagt Roßmann. Der "Unterbietungswettbewerb", den sich die Politik gerade liefere, hält er deshalb für sinnlos. Stattdessen? Von der EU wünscht sich Roßmann ein System, das die Geflüchteten fair auf die Mitgliedstaaten verteilt. Von der deutschen Politik mehr Fokus auf Integration und Qualifikation. Von den Behörden vor Ort zuweilen etwas mehr Pragmatismus. Und von der Bevölkerung, "dass sie anerkennt, dass wir längst ein Multi-Kulti-Land sind, wovon jeder profitiert".

Er erzählt von einem Freund, der kürzlich operiert wurde. "Danach sagte er zu mir: 'Ohne Zuwanderer würde im Krankenhaus gar nichts laufen'." In anderen Branchen sei es ähnlich, meint Roßmann, ob bei der Müllabfuhr, im Nahverkehr oder in der Gastronomie. "Vielleicht sollten alle Zuwanderer und Nicht-Deutschstämmige in Deutschland mal für ein paar Tage in den Streik treten. Womöglich wäre der Blick auf Migration danach ein bisschen positiver."

Verwendete Quellen:

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