Viele junge Menschen in Deutschland fühlen sich einsam – immer wieder. Ein Problem, das nicht nur individuell ist, sondern der ganzen Gesellschaft schaden kann.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Rebecca Sawicki sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Einsamkeit kennen seit Corona und den Lockdowns wohl viele. Für die meisten ist das belastende Gefühl nach der Pandemie wieder zurückgegangen – bei der Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen sieht das anders aus. Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung legt nahe, dass sich knapp die Hälfte (46 Prozent) der zwischen 16- und 30-jährigen Befragten einsam fühlen. Jeder Zehnte gibt sogar an, sich stark einsam zu fühlen. Und diese Einsamkeit könnte dazu beitragen, dass junge Menschen mit Demokratie fremdeln. Das zumindest legt eine Studie des Progessiven Zentrums, ein Think-Tank in Berlin, nahe.

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Einsamkeit kann antidemokratische Haltungen befeuern

Eine der Autorinnen ist Claudia Neu, sie ist Soziologieprofessorin an der Universität Göttingen. Im Gespräch mit unserer Redaktion macht Neu deutlich: "Nicht alle Menschen, die ihr Kreuzchen bei der AfD machen, sind einsam. Und nicht jeder einsame Mensch ist ressentimentgeladen und hasst die ganze Welt."

Jedoch hat sie in ihrer Forschung Zusammenhänge gefunden zwischen Einsamkeitserfahrungen und antidemokratischen Tendenzen. Da dieses Forschungsfeld sehr jung ist, kann Neu aktuell noch nicht sagen, was der auslösende Faktor ist. Was sie und ihre Mitautorinnen aber können: Annahmen treffen.

Konkret gehe es darum, was Einsamkeit mit Menschen macht. "Dieses Gefühl geht im Grunde an unser Menschsein, da es uns zeigt: Wir müssen uns mit anderen connecten." Einsamkeitsgefühle seien also zunächst nichts Schlechtes, sie seien vielmehr ein Alarmsignal, sich aus seinem Schneckenhaus hinauszubegeben und unter Menschen zu gehen. Zum Problem werde Einsamkeit, wenn genau das nicht klappt wenn Menschen chronisch einsam sind.

Einsamkeit ist nichts Freiwilliges, sie wird in der Forschung immer als negativ wahrgenommen und sie kann sich chronifizieren. Chronische Einsamkeit kann laut des Kompetenznetzes Einsamkeit sogar körperliche Auswirkungen haben.

Sie tritt im Leben in Wellen auf. Wie etwa die Loneliness-Studie der BBC nahelegt, kann Einsamkeit mit Übergangszeiten zusammenhängen: Ende der Schulzeit, die Uni, der Umzug in eine neue Stadt, der Wegzug der Freunde, der Beginn der Rente. Betroffen sind häufig auch marginalisierte Gruppen: Erwerbslose, Menschen mit Migrationsgeschichte, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung – und Alte.

Einsame Menschen, das könnte man als individuelles, persönliches Problem abtun. Das ist es aber nicht nur, so Neu. Denn Einsamkeit könne systemisch sein. Etwa eine kollektive Einsamkeit, weil Räume der Begegnung fehlten und Menschen seltener in den Austausch kämen.

Und: Einsamkeit könne Folgen haben, nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft. "Menschen, die einsam sind, können Misstrauen entwickeln gegenüber ihren Nachbarn, ihrer Umwelt, staatlichen Institutionen oder letztlich der Demokratie", sagt Neu. Erste Untersuchungen belegten diese Zusammenhänge, doch es brauche hier laut der Expertin noch deutlich mehr Forschung.

Jugendeinsamkeit keine Erklärung für Wahlerfolg der AfD

Einsamkeit könne einen guten Nährboden für extremistische Gruppen bilden – und die nutzten das gerne aus. "Gerade die Pubertät ist eine Phase, in der junge Menschen sich selbst suchen, in der sie sich sehr stark nach Gemeinschaft sehnen", sagt Neu.

Die eigene Bezugsgruppe habe zu dieser Zeit im Leben einen enormen Einfluss – und wenn die nicht da sei oder sich der Jugendliche nicht zugehörig fühle, dann sei das Risiko einsam zu sein sehr hoch. Ein Punkt, den gerade rechte Akteure oftmals ausnutzten. Denn dort würde mit der Gemeinschaft und dem Zusammenhalt geworben. "Darin liegt für einsame Menschen ein Reiz, weil sie den Anschluss suchen."

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Dass sich Jugendliche und junge Erwachsene einsam fühlen, sei allerdings keine Erklärung dafür, dass viele junge Menschen die AfD wählen, macht Neu deutlich. Sie sagt: "Es herrscht große Enttäuschung, weil die etablierten Partien sich zu wenig um die Sorgen und Nöte junger Menschen gekümmert haben. Gerade die Grünen haben viele junge Menschen enttäuscht."

Viele, meint die Expertin, fühlten sich nicht gesehen – selbst "super Engagierte berichten, dass sie bei der Politik, wie auch bei älteren Vereinsvorständen eigentlich selten ernst genommen werden." Klar sei aber auch, dass die Mehrheit der Jugendlichen ihr Kreuz eben nicht bei der AfD mache.

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Wichtig sei es trotzdem, Jugendlichen Angebote zu machen, sagt Neu. Zum einen müsse die Politik daran arbeiten, das fehlende Vertrauen zurückzugewinnen, durch mehr Ehrlichkeit, eine bessere Fehlerkultur. Was es außerdem brauche? "Orte der Begegnung, wo ich mit anderen in Kontakt komme, andere Meinung aushalten muss, am besten mit möglichst geringen Zugangshürden."

Mit 'geringen Hürden' meint Neu Möglichkeiten, in denen sich Menschen mit Einsamkeitserfahrung auch einfach nur dazustellen können, dabei sein können, ohne komisch zu wirken.

Denn: Viele Jugendliche, die einsam sind, wüssten nicht, wie man Freunde findet. Einsame Menschen könnten daher im sozialen Kontext schnell seltsam wirken. Gäbe es Orte, etwa Jugendclubs, an denen sie einfach sein können und dabei ein Gefühl der Gemeinsamkeit entwickeln können, wäre das ein guter Anfang.

Zur Person

  • Prof. Dr. Claudia Neu leitet den Lehrstuhl Soziologie ländlicher Räume an den Universitäten Göttingen und Kassel. Sie hat an der Mitte-Studie 2022/2023 der Friedrich-Ebert-Stiftung mitgeschrieben, ebenso an der Studie "Extrem Einsam?" des Progressiven Zentrums. In diesem Jahr hat Neu als Co-Autorin das Buch "Einsamkeit und Ressentiment" herausgegeben.

Verwendete Quellen

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