• Der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies sagt, bestimmte Maßnahmen seien angesichts des Klimawandels notwendig.
  • Die Politik traue sich aber nicht, das klar zu kommunizieren, weil es dann immer einen öffentlichen Aufschrei gebe.
  • Dass es so weit gekommen sei, habe auch mit dem Erfolg des Neoliberalismus zu tun.
Ein Interview

Fleisch, Tempolimit, Benzin: Warum geht es bei vielen großen Debatten um Verbot und Verzicht?

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Philipp Lepenies: Erst mal ist es ja ein unübersehbares Phänomen der politischen Rhetorik in Deutschland, dass Verbot und Verzicht Kampfbegriffe geworden sind, die hysterische Reaktionen hervorrufen. Vor zehn Jahren hat ein Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung in einem Gutachten angedeutet, dass es angesichts des Klimawandels unweigerlich zu Veränderungen unserer Produktions- und Konsumweisen kommen muss. Damit sind aber viele nicht einverstanden. Seitdem gibt es bei jedem Versuch in dieser Richtung einen Riesenaufschrei. Der Vorwurf der "Verbotspolitik" ist ein Totschlagargument. Schlimm ist daran, dass so getan wird, als wären Veränderungen unseres Lebensstils nicht notwendig und schon gar nicht eine Aufgabe der Politik.

Sie sagen, diese Entwicklung habe mit dem Neoliberalismus zu tun. Ist das nicht auch ein Kampfbegriff?

Ja, Neoliberalismus wird als Kampfbegriff verstanden und ruft dementsprechend immer starke Reaktionen hervor - vor allem bei denjenigen, die glauben, dass Markt und Wettbewerb die idealen sozialen Organisationsformen sind, und die für keinerlei Kritik offen sind. Aber Neoliberalismus ist eben nicht nur ein Etikett, sondern dahinter steckt paradoxerweise eine minutiös geplante Strategie, um bestimmte Ideen darüber, wie man Gesellschaften organisieren soll, in die Köpfe von Entscheidern zu bringen. Die Urväter des Neoliberalismus haben im Zusammenspiel mit internationalen Interessenverbänden, Thinktanks und Journalisten, aber auch mit massiver Unterstützung von Großunternehmen seit den späten 1940er-Jahren versucht, ihre Vorstellungen von Liberalismus zu etablieren. Mit der Regierungsübernahme von Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA hatten sie ihr Ziel erreicht und von da an wurde dieses Weltbild global.

Was heißt das konkret?

Wichtig ist die Vorstellung, dass Gesellschaften am besten funktionieren, wenn alles auf Markt und Wettbewerb setzt, das Individuum idealisiert und gleichzeitig der Staat als Gegner gesehen wird. Es gibt eine Zweiteilung: auf der einen Seite der gute individuelle Konsument, auf der anderen Seite der böse und bevormundende Staat. Thatcher ist ja berühmt dafür, dass sie mal gesagt hat: Eine Gesellschaft gibt es gar nicht, sondern nur Individuen. Und Reagan sagte bei seinem Amtsantritt: Der Staat ist das Problem. Der Neoliberalismus singt nicht nur das Hohelied des Konsums und der Staatsphobie, sondern meint, dass jeder Einzelne seinen Gelüsten folgen darf und soll. Gleichzeitig hat niemand das Recht, zu bewerten, was konsumiert wird. Das heißt dann auch, dass man sich nicht um andere oder die Allgemeinheit kümmern muss, sondern nur um sich. Und Freiheit ist dann eigentlich noch konsumtive Freiheit. Und das heißt dann auch, dass man sich nichts verbieten lassen will.

In der Wirtschaft gibt es doch aber auch positive Entwicklungen und Konzepte wie die Gemeinwohlökonomie, die die Allgemeinheit mehr in den Blick nehmen.

Es gab und gibt immer Menschen, die dieser Ideologie nicht anhängen wollen und alternative Formen des Konsumierens und Produzierens suchen und finden. Das muss sich nicht widersprechen. Aber die neoliberale Erzählung "Keiner darf mir was vorschreiben" ist immer noch stark in den allermeisten Köpfen vertreten.

Anton Hofreiter von den Grünen sagte 2021 in einem Interview mit der "taz": "Sie können von mir aus einen Schweinebraten essen und danach nach Mallorca fliegen, so oft Sie wollen. Meine Aufgabe als Politiker ist es, an den Strukturen etwas zu ändern." Ihre Meinung dazu?

Das ist nett dahergesagt. Bei den Grünen fällt auf, dass sie besonders durch den Holzhammervorwurf der "Verbotspolitik" in den letzten Jahren in die Enge getrieben wurden. Sie trauen sich gar nicht mehr, offensiver damit umzugehen, dass man eben doch eine Verhaltens- und damit Konsumsteuerung durch die Regierung braucht, wenn man das mit der Nachhaltigkeit ernst nimmt. Insofern ist diese Aussage ein Zeichen für die ängstliche Haltung der Partei, keine Vorschläge für eine echte Transformation zu machen, weil sie weiß, sie bekommt dann die ganze Zeit die Keule "ökodiktatorische Verbotspolitik" auf den Kopf geschlagen. Leider hören bei so einer rhetorischen Floskel aber anscheinend viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land zu.

Bei solchen Diskussionen spielen Gefühle oft eine große Rolle. Gibt es überhaupt einen Weg aus diesen Erregungsspiralen?

Die ganze Debatte um Verbote nimmt hysterische Züge an. Das hat auch damit zu tun, dass die zunehmende Digitalisierung unseres Lebens dazu führt, dass wir dauernd emotional erregt sind und emotional erregt werden. Die Logik des Netzes ist, unsere Affekte anzusprechen und affektgeladenes Verhalten zu generieren. Sei es durch Kommentare oder Kaufentscheidungen. Die Haltung "Mir darf keiner etwas (verbieten)" wird leider dadurch verstärkt.

Angesichts gestiegener Preise und des Kriegs in der Ukraine rufen manche zum "Frieren für den Frieden" auf. Bringen solche Forderungen etwas?

Warum nicht? Der Unterschied ist aber, dass es aktuell um eine Weltmarktlage geht, die unsere Regierung nicht so leicht beeinflussen kann. Was in dieser Verzichtsrhetorik aber neu ist und vielleicht doch ein Lichtblick in dieser schrecklichen Situation: Man trennt sich plötzlich von diesem extremen und egoistischen Konsumfokus, den uns der Neoliberalismus antrainiert hat und wird solidarisch. Uns lässt nicht kalt, dass Menschen leiden, flüchten, sterben. Vielleicht ist das die Grundlage für mehr Verständnis in Sachen Verbot und Verzicht, weil wir auf einmal wieder lernen, auch an andere zu denken und erkennen, wie wichtig das ist.

Mit Blick auf das Thema Energieabhängigkeit ging es zuletzt auch wieder um die Kanzlerinnenschaft von Angela Merkel. Welche Rolle spielt ihre Amtszeit?

Merkel ist ein Musterbeispiel für das, was ich die "Politik im Geiste des Unterlassens" nenne; also einen Politikstil, der es idealisiert, möglichst wenig zu tun. Diese Vorstellung gibt es sowohl auf Bürgerseite in der Erwartungshaltung "Der Staat darf mir nicht reinreden" als auch bei Politikern, die darin eine gute Politik sehen, nicht viel zu machen. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn das Bundesverfassungsgericht anmahnt, dass das Klimaschutzgesetz oder andere Maßnahmen der Bundesregierung überhaupt nicht ausreichen. Angesichts der Herausforderungen durch den Klimawandel muss man aber einfach sagen: Das ist keine gute Politik.

Zur Person: Philipp Lepenies ist Professor für Politik an der Freien Universität Berlin und leitet dort das Forschungszentrum für Nachhaltigkeit. Anfang März ist sein Buch "Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens" bei Suhrkamp erschienen.

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