Der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger soll laut Süddeutscher Zeitung als Jugendlicher ein Flugblatt verfasst haben, das die Opfer des Holocaust verhöhnt. Er bestreitet das, sein Bruder hat sich zur Urheberschaft bekannt. Doch Fragen bleiben. Eine Expertin ordnet das Schriftstück ein.

Ein Interview

Vergangene Woche berichtete die "Süddeutsche Zeitung" (SZ), Hubert Aiwanger habe Ende der 80er Jahre als Jugendlicher ein Flugblatt angefertigt, in dem es um einen "Bundeswettbewerb" geht, dessen erster Preis ein "Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz" ist. Aiwanger weist den Vorwurf zurück, und am Sonntag erklärte sein Bruder Helmut, er sei der Verfasser.

Mehr aktuelle News

Doch die Debatte um das Flugblatt reißt nicht ab. Die Erklärungen der Aiwanger-Brüder reichten nicht aus, sagen Kritiker. Hubert Aiwanger, bayerischer Landesvorsitzende der Freien Wähler, erhält aber auch Rückendeckung. So schrieb der deutsch-jüdische Historiker und Publizist Michael Wolffsohn in der "Bild"-Zeitung, Aiwanger sei Opfer von "Denunzianten".

Für eine Einordnung des Vorfalls telefonieren wir mit Annette Seidel-Arpacı. Sie ist die Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern, die in dem Bundesland antisemitische Vorfälle statistisch erfasst und über Judenhass aufklärt.

Vor dem Interview betont sie, dass RIAS Bayern eine überparteiliche und zivilgesellschaftliche Organisation ist und keinerlei Interesse hat, in irgendeiner Form in den Wahlkampf einzugreifen. Auch persönlich interessiere sie Parteipolitik nicht. Antisemitismus sei zu verurteilen, egal, von wem, sagt Seidel-Arpacı.

Seidel-Arpacı: "Antisemitismus funktioniert auch als Denkmuster in Chiffren"

Frau Seidel-Arpacı, Michael Wolffsohn argumentiert in der "Bild"-Zeitung, das Flugblatt, als dessen Urheber die "SZ" Hubert Aiwanger vermutet, sei nicht antisemitisch. In diesem würden nicht "Juden als Juden verächtlich" gemacht und deren Benachteiligung oder Ermordung gefordert. Wie sehen Sie das?

Findet die Erklärungen der Aiwanger-Brüder "nicht sehr zufriedenstellend": Annette Seidel-Arpacı
Findet die Erklärungen der Aiwanger-Brüder "nicht sehr zufriedenstellend": Annette Seidel-Arpacı © Lakruwan Rajapaksha

Seidel-Arpacı: Ich habe das mit Erstaunen gelesen. Für Antisemitismus ist es nicht entscheidend, dass Juden immer wortwörtlich als Juden vorkommen. Antisemitismus funktioniert auch als ein Denkmuster in Chiffren.

In dem Flugblatt kommen eindeutig NS-Gewaltfantasien vor. Es ist eine Verherrlichung der nationalsozialistischen Verbrechen sowie eine Schoa-relativierende Fantasie und damit zugleich eine Verhöhnung der ermordeten Juden ("Schoa" ist das hebräische Wort für den Holocaust, Anm.d.Red.). Das ist für mich ganz eindeutig antisemitisch, insbesondere auch, wenn man den Antisemitismus als den Kern der NS-Ideologie versteht.

Der Bruder Hubert Aiwangers, Helmut Aiwanger, erklärte nun, das Flugblatt verfasst zu haben. Seine Erläuterung: "Ich war damals total wütend, weil ich in der Schule durchgefallen bin." Für wie plausibel halten Sie das?

Das halte ich tatsächlich für nicht unglaubwürdig. Helmut Aiwanger beschreibt einen Automatismus in Deutschland nach der Schoa: Ich bin auf irgendetwas wütend, und sofort erfolgt der Rückgriff auf NS-Fantasien und auf die Schoa. Im politisch-kulturellen Kontext der 80er-Jahre lässt sich das zumindest erklären. Zu dieser Zeit gibt es auch in Bayern einen Aufwind für Neonazis, rechtsextreme Parteien und neonazistische Anschläge. Nationalsozialistisches Gedankengut erlebte erneut eine Art Normalisierung.

Ich selbst musste mir als Jugendliche Sprüche anhören wie "Für dich müsste man Dachau wieder aufmachen" oder "Dich hätte man damals vergast". Unter Jugendlichen war damals eine Faszination für den Nationalsozialismus durchaus verbreitet. Die "SZ" hat berichtet, dass sich auch Hubert Aiwanger für Hitler und das "Dritte Reich" begeistert haben soll. Geredet wird jedoch nur über das Flugblatt. Ich finde es falsch, dass das in der Debatte unter den Tisch fällt. Es geht hier auch nicht um einzelne junge Leute, sondern darum, dass man sich der Auseinandersetzung mit dem Fortleben des NS in den Familien und Köpfen verweigert.

"Erläuterungen beider Brüder nicht sehr zufriedenstellend"

Hubert Aiwanger gibt zu, "ein oder wenige Exemplare" des Flugblatts in seiner Schultasche gehabt zu haben. Er erinnere sich jedoch nicht, ob er "einzelne Exemplare weitergegeben" habe. Den Inhalt des Flugblatts, von dem er sich distanziere, nennt er "menschenverachtend und geradezu eklig".

Für mich sind die Erläuterungen beider Brüder nicht sehr zufriedenstellend, weil sie keine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Flugblatt liefern. Die Reaktionen waren von Anfang an geprägt von Schuldabwehr. Hubert Aiwanger ging sofort davon aus, dass es sich bei der Berichterstattung um eine Schmutzkampagne gegen ihn handele. Stattdessen hätte man auch erst einmal sein Entsetzen über das eigene damalige Gedankengut bekunden und eine Reflexion beginnen können. Das ist bisher nicht erfolgt.

Von vielen Kritikern wird das Flugblatt als "menschenverachtend" und "widerwärtig" verurteilt. Das Wort "antisemitisch" hört man weniger. Was sagt das über die Debatte aus?

Begriffe wie "menschenverachtend" kommen vielen Politikern noch halbwegs einfach über die Lippen, weil jeder weiß, dass man bestimmte Sachen eben nicht mehr sagt. Man will zum Ausdruck bringen, dass man entsetzt ist, aber ohne sich tiefer mit dem Inhalt des Flugblatts auseinanderzusetzen.

Was bedeutet es aber, wenn man sich jemanden ins Gestapogefängnis, nach Dachau und "durch den Schornstein in Auschwitz" wünscht? Kann man so etwas sagen oder auch nur denken, wenn man mit Überlebenden gesprochen und Biografien gelesen hat? Und was heißt es, wenn dies nicht die ersten Fragen sind, sondern einem die Abwehr näher ist? Für mich zeigt das vor allem, wie schlecht es hierzulande um die sogenannte Aufarbeitung des Nationalsozialismus auch heute noch bestellt ist.

"Rede von Eliten, die den kleinen Mann unterdrücken, ist typisch für Verschwörungstheorien"

In besagtem "SZ"-Artikel wird auch immer wieder auf Aiwangers neuere Aussagen als Politiker Bezug genommen. So sprach Aiwanger von "linken Eliten" und einer "schweigenden großen Mehrheit", die sich "die Demokratie wieder zurückholen" müsse. Ist es gerechtfertigt, diese Aussagen in einen Zusammenhang mit dem Flugblatt zu setzen?

Die Rede von Eliten, von "denen da oben", die den kleinen Mann unterdrücken, ist typisch für Verschwörungstheorien, die oft auch antisemitisch konnotiert sind. Diese Rede gibt es von links, rechts und im gesamten politischen Spektrum. Auffällig an der Debatte finde ich die wiederholte Rede vom "Verpfeifen" und "Denunzieren". Das ist auch anschlussfähig an den antijüdischen Stereotyp vom Juden als Verräter. Womit wir wieder beim Flugblatt wären. Auf diesem wird gefragt: "Wer ist der größte Vaterlandsverräter?" Und das waren immer zuallererst die Juden. Der "Gewinner" kommt nach Auschwitz.

Was sollte Ihrer Meinung nun auf den Skandal um das Flugblatt folgen?

Es müsste zu einer Auseinandersetzung kommen, was eigentlich los war in den 80ern oder überhaupt während und nach der Schoa in Deutschland. Wie konnte es sein, dass ein Jugendlicher in diesem Alter für seine Wut eine solche Ausdrucksform wählt? Wie wurde damals in den Familien über die Schoa und die eigene Verantwortung gesprochen oder, besser gesagt, geschwiegen? Warum waren die Täter angesehene Leute im Ort? Wird heute über die verschwundenen Nachbarn und die ergatterten Häuser geredet?

Mit Unwissenheit haben wir es hier zumindest nicht zu tun. Das Flugblatt zeigt, dass der Verfasser über die nationalsozialistischen Vernichtungslager gut Bescheid wusste.

Zur Person: Dr. Annette Seidel-Arpacı ist seit 2019 die Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern. An der Universität Leeds in England promovierte sie im Fach "Jewish Studies". Aufgewachsen ist Seidel-Arpacı in der Oberpfalz.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.