Es könnte eines der reichsten Länder der Erde sein - und versinkt doch im Chaos. Die sozialistische Regierung Venezuelas klammert sich an die Macht, obwohl hunderttausende Menschen täglich gegen Armut und Gewalt auf die Straße gehen. Der Konflikt lähmt aber nicht mehr nur das eigene Land.

Ein Interview

Mehr als 80 Prozent der Venezolaner gelten mittlerweile als arm, Nahrung und Strom sind längst Mangelware. Das Land liegt am Boden.

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Besonders abstrus: Präsident Nicolás Maduro tanzt täglich fröhlich Salsa im Staatsfernsehen, dabei gab es bei den jüngsten Demonstrationen sogar zivile Todesopfer. Die Nachbarstaaten zeigen sich alarmiert.

Professor Detlef Nolte, Direktor des GIGA-Instituts für Lateinamerikastudien in Hamburg, erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion, was der Konflikt für Auswirkungen hat und entwirft ein düsteres Szenario für die Zukunft des Landes mit den weltweit größten Erdölressourcen.

Herr Nolte, in Venezuela gärt ein Konflikt, der nicht nur das eigene Land betrifft. Wieso spürt man seine Auswirkungen auf dem ganzen südamerikanischen Kontinent?

Detlef Nolte: Venezuela war über viele Jahre eine Art wirtschaftliches und ideologisches Alternativmodell für Südamerika, vor allem während der Regierungszeit von Hugo Chávez. Da hatte das Land Einfluss in der ganzen Region.

In Zeiten hoher Rohstoffpreise konnte er subventioniertes Erdöl an kleinere oder ärmere Länder verkaufen. Insofern ist Venezuela historisch gesehen wichtig. Aktuell ist es wichtig, weil es das Land in Lateinamerika ist, in dem sich die verschiedenen Krisensymptome des ganzen Kontinents besonders verdichten.

Was für Krisensymptome sind das?

Da ist einmal die wirtschaftliche Krise. Die Zeiten der Schönwetter-Ökonomie sind in Lateinamerika seit zwei, drei Jahren vorbei.

Zu Zeiten hoher Rohstoffpreise ging es den Ländern gut, es gab hohe Wachstumsraten. Seitdem die Preise eingebrochen sind, müssen lateinamerikanische Länder, die besonders vom Export von Rohstoffen abhängen, ihre Wirtschaft anpassen.

Das hat oft zu wirtschaftlicher Stagnation geführt und zu einem Anstieg der Armut - in Venezuela besonders drastisch. Man geht davon aus, dass mehr als 80 Prozent der Bevölkerung mittlerweile in Armut lebt.

Hat der wirtschaftliche Niedergang zu mehr Kriminalität und Korruption geführt?

Im vergangenen Jahr sind in Venezuela 30.000 Menschen durch Gewalt ums Leben gekommen. Es ist damit zu rechnen, dass Venezuela in diesem Jahr El Salvador als das gewaltträchtigste Land der Welt ohne Bürgerkrieg ablösen wird.

Venezuela ist außerdem ein Beispiel dafür, wohin extreme Korruption führen kann. Die Krise ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass der Erdölpreis gesunken ist - das gibt es in anderen Ländern ja auch - sondern auch auf Misswirtschaft und wirtschaftspolitische Fehler.

Das alles ist dann noch mit dem Drogenproblem verbunden. Es gibt durchaus Anzeichen, dass Mitglieder der politischen Elite in den internationalen Drogenhandel verwickelt sind.

Kann man den aktuellen Konflikt in Venezuela nicht doch schon als eine Art Bürgerkrieg bezeichnen?

Ein Bürgerkrieg setzt voraus, dass sich zwei bewaffnete Gruppen gegenüberstehen. So wie die Lage momentan ist, gibt es nur eine bewaffnete Gruppe, das ist die Regierung.

Sie kontrolliert die Sicherheitskräfte. Bei der Opposition hingegen gibt es vielleicht welche, die vom bewaffneten Widerstand träumen - im Großen und Ganzen ist die Opposition aber unbewaffnet.

Die meisten Todesopfer, die wir bei den Demonstrationen sehen, sind Zivilisten, die eher der Opposition zuzurechnen sind, die von Polizisten oder paramilitärischen Gruppen erschossen wurden.

Wie wirkt sich der Konflikt international aus?

Wenn sich die Krise weiter verschlechtert, also die Ernährungslage schlimmer wird und die Gewalt zunimmt, wird es Flüchtlinge geben, die dann in den Nachbarländern aufgenommen werden müssen.

Außerdem polarisiert Venezuela die Außenpolitik innerhalb der lateinamerikanischen Länder. Es gibt noch eine kleine Gruppe, die zu Venezuela hält. Das sind vor allem Kuba, Bolivien, Ecuador, Nicaragua und El Salvador.

Die großen Nationen, also Mexiko, Brasilien, Argentinien, Chile und Kolumbien, sind seit der Verschärfung der Krise eindeutig gegen die venezolanische Regierung. Sie haben den Fall vor die Organisation Amerikanische Staaten gebracht haben, in denen auch die USA Mitglied sind.

Die wiederum sehen sich jetzt darin bestärkt, stärker Position in der Venezuela-Frage zu beziehen. Man darf nicht vergessen, dass die USA immer noch der wichtigste Abnehmer venezolanischen Erdöls sind. Venezuela ist nach wie vor das Land mit den größten Ölreserven der Welt.

Was ist Ihre Prognose für den weiteren Verlauf der Krise?

Es gibt dazu drei Szenarien. Das erste wäre, dass die Opposition darauf setzt, durch Massenproteste eine Spaltung innerhalb des Regimes zu erzielen.

Kleine Anzeichen dafür gab es schon. Als das Parlament quasi entmachtet wurde, hat die Generalstaatsanwältin, die eigentlich dem Regime nahe steht, gesagt, dass dies verfassungswidrig ist.

Die große Hoffnung der Opposition ist das Militär, das um weiteres Blutvergießen zu vermeiden und dem Mehrheitswillen Rechnung zu tragen die Regierung stürzt und einen Übergang einleitet. Sie denkt: Also setzen wir die Regierung ab und leiten einen Übergang ein.

Das zweite Szenario ist, dass die Regierung vernünftig wird, auch durch äußeren Druck.

Es gibt Neuwahlen und dann regiert derjenige, der die Mehrheit des Volkes hinter sich hat. Das halte ich allerdings für unwahrscheinlich.

Und die dritte Möglichkeit ist, dass das Regime versucht, sich weiter so durchzuwursteln. Wenn jeden Tag Hunderttausende auf die Straße gehen, läuft sich das irgendwann möglicherweise tot. Die Leute haben ja auch andere Probleme.

Alleine das Schlangestehen für Grundnahrungsmittel kostet viel Zeit. Die Regierung macht Scheinzugeständnisse, um die Opposition zu spalten und Zeit zu gewinnen.

Möglicherweise wird die venezolanische Krise noch anhalten. Das ist vielleicht sogar das wahrscheinlichste Szenario.

Was wird aus Venezuela nach der Krise?

Unabhängig davon wie die Krise ausgeht, liegt das Land am Boden. Selbst wenn der Erdölpreis steigt, lässt sich das Land nicht so schnell wieder aufbauen, sowohl wirtschaftlich gesehen, als auch durch die Polarisierung der vergangenen Jahre.

Ein argentinischer Kollege hat mal gesagt, wenn man Venezuela wieder aufbauen will, dann ist das wie ein Land nach einem Bürgerkrieg wieder aufzubauen - zu tief ist die wirtschaftliche Krise, zu polarisiert die Politik und zu zerrüttet ist der gesellschaftliche Zusammenhalt.

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