Bei der Präsidentenwahl in Belarus wird Seiteneinsteigerin Swetlana Tichanowskaja bejubelt. Amtsinhaber Alexander Lukaschenko lässt ihre Unterstützer festnehmen und Militärfahrzeuge auffahren – aus Angst vor Massenprotesten.
Unter dem Eindruck beispielloser Fälschungsvorwürfe und massiver Polizeigewalt haben Millionen Menschen in Belarus (Weißrussland) am Sonntag einen Präsidenten gewählt. Zwar erwartete Staatschef Alexander Lukaschenko, der die ehemalige Sowjetrepublik seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit harter Hand regiert, einen hohen Sieg. Bejubelt wurde aber die politisch nur wenig erfahrene Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja (37). Viele riefen "Sweta, Sweta!". Vor den Wahllokalen bildeten sich teils lange Schlangen von einigen Hundert Metern mit Lukaschenko-Gegnern. Das gab es in der Ex-Sowjetrepublik noch nie.
Ein ganz anderes Bild als bei der Kandidatin gab es bei Lukaschenko, der als "Europas letzter Diktator" gilt und immer noch die Todesstrafe vollstrecken lässt: Der 65-Jährige gab seine Stimme in kleinem Kreis an der Universität in der Hauptstadt Minsk ab. Er hatte mit dem Einsatz der Armee gedroht, um seine Macht zu sichern. Der Staatsagentur Belta zufolge sagte er: "Es kann keine Rede davon sein, dass mit dem morgigen Tag im Land Chaos und Bürgerkrieg ausbrechen. Es gerät nichts außer Kontrolle. Das garantiere ich." Er erwartete laut staatlichen Nachwahlbefragungen 79,7 Prozent der Stimmen, Tichanowskaja soll demnach nur 6,8 Prozent zugesprochen bekommen.
Männer in schwarzen Sturmhauben
In sozialen Netzwerken wurden Videos von Militärfahrzeugen veröffentlicht, die an den Straßen nach Minsk Stellung bezogen. Auch am Wahltag kam es wieder zu zahlreichen Festnahmen, darunter ein Team des russischen Internet-Fernsehkanals Doschd. Männer in schwarzen Sturmhauben von der Anti-Terror-Polizei OMON nahmen unter Protest von Passanten mehrere Bürger fest. Oft war der Grund nicht klar.
"Ich will, dass die Wahl ehrlich verläuft", sagte Tichanowskaja bei der Stimmabgabe. Sie wurden von Hunderten Bürgern bejubelt. Es gab Dutzende Videos von Manipulationen in den sozialen Netzwerken und Klagen von Bürgern über Verstöße. Verbreitet war demnach, dass Wahlzettel mit dem Kreuz für Lukaschenko schon vorher ausgefüllt waren. Deshalb lag die Wahlbeteiligung unabhängigen Beobachtern zufolge in Minsk stellenweise bei mehr als 100 Prozent. Viele Menschen mussten Stunden warten, um ihre Stimme abzugeben.
Die Opposition bezweifelt, dass Lukaschenko in der Lage ist, eine Abstimmung ohne massive Fälschungen zu gewinnen. Seine Gegner haben deshalb friedliche Proteste angekündigt, die sich mehrere Tage hinziehen könnten. Tichanowskaja hat die Unterstützung von anderen nicht zur Wahl zugelassenen Oppositionskandidaten - nicht nur von ihrem Mann Sergej, einem regierungskritischen Blogger, auch vom früheren Banken-Chef Viktor Babariko. Beide sitzen in Haft wegen Anschuldigungen, die als politisch inszeniert gelten.
Mehr als 1500 Festnahmen
Kollegen und Mitstreiterinnen Tichanowskajas wurden ebenfalls in Gewahrsam genommen, darunter Maria Kolesnikowa von ihrem Wahlkampfstab. Sie kam nach kurzer Zeit am Samstag wieder frei. Schon im Wahlkampf waren Hunderte Menschen festgenommen worden. Die Gesamtzahl stieg am Sonntag auf mehr als 1500.
Wahlleiterin Lidija Jermoschina erklärte die Präsidentenwahl bereits gegen Mittag für gültig, nachdem die Mindestbeteiligung von 50 Prozent erreicht war. Um 18.00 Uhr Ortszeit (17.00 Uhr MESZ) wurde sie mit mehr als 79 Prozent angegeben. Die meisten Wahllokale schlossen um 20.00 Uhr Ortszeit. In Minsk wurde die Stimmabgabe verlängert, weil viele Menschen ihre Stimme nicht abgeben konnten. Jermoschina sagte, dass nicht genügend Stimmzettel verfügbar gewesen seien und niemand mit einer solchen Wahlbeteiligung gerechnet habe. Ergebnisse der Wahl wurden spätestens am Montag erwartet.
"Starker Wunsch nach Veränderung"
"Belarus hat noch nie einen solchen Zulauf an den Wahlurnen gesehen. Das ist Ausdruck für den starken Wunsch nach Veränderung", sagte die Politologin Maryna Rakhlei der Deutschen Presse-Agentur. Es seien auch viele 40- bis 50-Jährige unter den Wählern gewesen, die erstmals überhaupt abgestimmt hätten. Rakhlei wertete das als starkes Zeichen gegen Lukaschenko. "Die Regierung fühlt sich schwach und reagiert mit Brutalität", sagte sie.
Auch im Ausland bildeten sich lange Schlangen. An der Botschaft in Moskau etwa war sie zeitweilig zwei Kilometer lang. Internationale Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) waren diesmal nicht im Einsatz. Sie hatten noch nie eine Wahl in dem wirtschaftlich von Russland abhängigen Land als demokratisch anerkannt. Die OSZE hatte ihre Abwesenheit mit einer fehlenden Einladung begründet. Wegen der Corona-Pandemie gab es zudem massive Reisebeschränkungen, auch für internationale Journalisten.
Auch Einschränkungen im Internet
Bürger, Journalisten und Aktivisten beklagten am Wahltag massive Probleme mit dem Internet. Vor allem viele regierungskritische Seiten waren in Belarus nicht abrufbar. Tichanowskajas Stab warnte vor einer kompletten Abschaltung des Netzes. Auf diese Weise wollten die Behörden organisierte Proteste verhindern. Ziel Tichanowskajas ist es, die Wahl zu gewinnen, als Präsidentin alle politischen Gefangenen freizulassen und dann freie Neuwahlen anzusetzen. Insgesamt waren in dem Land zwischen Polen und Russland 6,8 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen. Zur Wahl standen noch drei weitere Kandidaten, die aber als chancenlos galten. (best/dpa)
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