Die Slowakei erlebt nach dem Attentat auf Regierungschef Robert Fico eine Zeit der Ungewissheit. Der politische Hintergrund der Tat scheint klarer zu sein als bei früheren Vorfällen. Die politische Stimmung im Land ist aufgeheizt.
Die Menschen in der Slowakei durchleben bange Stunden. Am Tag nach dem Attentat auf Regierungschef Robert Fico kämpfen die Ärzte weiter um dessen Leben. Die Tat ist für das Land ein noch größerer Schock als der Doppelmord am Investigativ-Journalisten Ján Kuciak und dessen Verlobter Martina Kusnirova im Februar 2018 und der Mordanschlag auf die als LGBTI-Treffpunkt bekannte Bar Teplaren in Bratislava im Oktober 2022.
Der politische Hintergrund scheint diesmal schneller klar zu sein, als bei den beiden anderen Attentaten. Innenminister Matus Sutaj Estok sprach von einem klaren politischen Motiv, das sich aus den ersten Vernehmungen des Täters ergeben habe.
Angreifer gibt Motiv preis
In einer aus der Polizeistation geleakten Videoaufnahme, die alle relevanten Internetportale noch am Mittwochabend übernahmen, begründete der gleich nach seinen Schüssen auf den Regierungschef festgenommene Angreifer unmissverständlich die Schüsse auf Fico: "Ich stimme der Regierungspolitik nicht zu", sagte er deutlich hörbar. Mit undeutlicherer Stimme nannte er dann Beispiele - allen voran die Medienpolitik der Regierung, vor allem die geplante Auflösung des öffentlich-rechtlichen Radios und Fernsehens RTVS. Dagegen hatten die liberalen und konservativen Oppositionsparteien seit Wochen Tausende Menschen zu Massendemonstrationen mobilisiert.
Der Fernsehsender TV Markiza berichtete, der Täter Juraj C. sei angeblich schon bei Oppositionsprotesten gegen die Medien- und Ukraine-Politik der Regierung aufgefallen. Fico selbst hatte erst vor Kurzem der liberalen Opposition vorgeworfen, ein Klima der Feindschaft gegen seine Regierung zu schüren. Es sei nicht auszuschließen, dass es angesichts der aufgeheizten Stimmung irgendwann zu einer Gewalttat komme.
Regierung macht Opposition schwere Vorwürfe
Bei den von der liberalen Opposition, die bei der Parlamentswahl im Herbst knapp unterlegen war, schon seit Dezember organisierten Massenprotesten gegen die Regierung riefen die Teilnehmenden regelmäßig in Sprechchören: "Fico ins Gefängnis!" und "Wir wollen Fico nicht!". Bei allen Demonstrationen gegen die Regierung waren Transparente mit der Aufschrift "Mafia!" zu sehen. Dieses Schlagwort ruft hartnäckig den juristisch längst widerlegten Vorwurf in Erinnerung, der Journalistenmord von 2018 sei von einer Verschwörung italienischer Mafia-Clans mit Regierungspolitikern eingefädelt worden.
Teile des Regierungslagers warfen der Opposition und den mit ihr verbündeten liberalen Medien auch deshalb immer wieder vor, eine Art Putschversuch gegen die legitime Regierung zu planen, wie es Fico, aber auch andere Regierungspolitiker immer wieder formulierten. Auch am Mittwochabend wäre in Bratislava eine weitere Massenkundgebung gegen die Regierung geplant gewesen. Hauptsächlich wäre es dabei um den umstrittenen Plan von Kulturministerin Martina Simkovicova gegangen, die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt RTVS aufzulösen und durch ein neues Unternehmen zu ersetzen.
Oppositionsparteien sagen politische Aktionen ab
Aus der Sicht der Opposition, aber auch der RTVS-Mitarbeiter und Oppositionsmedien sollte damit ein willfähriges Propagandaorgan der Regierung geschaffen werden. Oder wie RTVS-Redakteur Miro Frindt der Deutschen Presse-Agentur sagte: "Es geht der Koalition um die Kontrolle der Nachrichtensendungen". Eine Art Hofberichterstattung sollte die in Umfragen als unabhängig und vertrauenswürdig bewertete bisherige RTVS-Berichterstattung ersetzen.
Obwohl der liberale Oppositionsführer und Chef der größten liberalen Oppositionspartei "Progressive Slowakei" (PS) diesen Kampf weiterhin für wichtig und legitim hält, sagte er nach dem Attentat spontan die für den Abend geplante Protestkundgebung in Bratislava ab. Auch andere Oppositionsparteien stimmten zu, vorerst keine großen politischen Aktionen zu organisieren.
Die der Opposition näher als der Regierung stehende und noch bis 15. Juni amtierende Präsidentin Zuzana Caputova rief gemeinsam mit ihrem bereits gewählten Nachfolger, dem zum Regierungslager gehörenden Sozialdemokraten Peter Pellegrini zur Mäßigung auf. Auch der Innen- und der Verteidigungsminister appelierten aus dem Krankenhaus in Banska Bystrica, in dem der verletzte Fico behandelt wurde, zur "Beruhigung" des polarisierten gesellschaftlichen Klimas auf. Insbesondere sollten alle Parteien auf Attacken in sozialen Medien verzichten, da diese eine Stimmung der Gewalt beförderten, sagte Innenminister Matus Sutaj Estok.
Was aber rasch auffiel, waren sofortige Schuldzuweisungen in Nebensätzen. Parlaments-Vizepräsident Lubos Blaha, einer von Ficos Stellvertretern in der größten Regierungspartei "Richtung - Slowakische Sozialdemokratie" (Smer-SSD) fügte seiner Mahnung zur Mäßigung sogleich den an Oppositionsmedien und Oppositionsparteien gerichteten Nachsatz hinzu "Das ist euer Werk!" Andrej Danko, der Chef der kleinsten, rechtspopulistischen Regierungspartei SNS warf der Opposition vor, "Blut an ihren Händen" zu haben.
Klima des Hasses
Umgekehrt kritisierten mehrere Oppositionspolitiker wie etwa der konservative EU-Abgeordnete Ivan Stefanec, die Regierung sei selbst für das Klima des Hasses verantwortlich, das so ein Attentat möglich gemacht habe.
Vergleichbare Attentate auf Regierungschefs in Europa hat es seit Jahrzehnten nicht gegeben. Im März 2003 wurde der reformorientierte serbische Ministerpräsident Zoran Djindjic in Belgrad bei einem Attentat erschossen, im September des gleichen Jahres stirbt die schwedische Außenministerin Anna Lindh nach einem Messerangriff in einem Stockholmer Kaufhaus. Im Oktober 2021 ersticht in England ein 25-Jähriger während einer Bürgersprechstunde den 69 Jahre alten konservativen Unterhausabgeordneten David Amess.
In Deutschland sorgt im Juni 2019 vor allem der Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke für Entsetzen: Ein Rechtsextremist erschoss den Kasseler Regierungspräsidenten auf dessen Terrasse in Wolfhagen. Dagegen überlebt im Oktober 2015 die parteilose Henriette Reker kurz vor der Wahl zur Kölner Oberbürgermeisterin einen Messerangriff durch einen Rechtsextremisten nur knapp. (dpa/phs)
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