Der Islamische Staat braucht dringend frische Kräfte – und er findet sie bei den Jüngsten. Viele Kinder werden im IS-Gebiet zu Terroristen ausgebildet, teilweise unter Zwang. Der US-Wissenschaftler John Horgan hat sich mit den Rekrutierungsmethoden beschäftigt. Sie sind ungewöhnlich für eine Terrorgruppe, sagt er - und offenbaren ein Problem des IS.
Es gibt Eis, Süßigkeiten und Spielzeug. Einige Kinder dürfen die Schwarze Flagge des Islamischen Staates (IS) schwenken. Und dann reden die Männer. Über den wahren Islam, über die Ehre, ein heiliger Krieger zu sein. Ob die Jungen nicht auch mitmachen wollen beim IS?
Die Rekrutierungen von Kindern für die Truppen des IS auf offener Straße sind Teil einer ausgeklügelten Strategie: Sie werden in das brutale System einbezogen – und nicht nur zur Loyalität erzogen, sondern sogar zu Kämpfern ausgebildet. Das Ergebnis präsentiert die Terrortruppe der Welt in ihren Propaganda-Videos: Mitte Januar veröffentlichte der IS eine Aufnahme von einer Hinrichtung zweier angeblicher Spione. Die Todesschüsse feuerte ein ca. 14 Jahre alter Junge ab. Andere Videos zeigen Kinder als Scharfschützen und bei Attacken aus dem Hinterhalt.
All das ist mehr als nur Propaganda, meint John Horgan. Der Professor an der Georgia State University in Atlanta ist überzeugt, dass der IS sich systematisch seinen Nachwuchs heranzüchtet: "Diese Kinder übernehmen mehr als Hilfsjobs, sie machen all das, was auch erwachsene Kämpfer machen."
Horgan schreibt gerade mit seiner Kollegin Mia Bloom an einem Buch mit dem Titel "Small Arms: Children and Terrorism". Für die Recherche hat er sich ausgiebig mit der Rekrutierung von Kindern durch den IS beschäftigt. Die meisten von ihnen begeben sich freiwillig unter die Fittiche der Terrorgruppe, wenn man das bei Kindern so nennen kann. Es kommt aber auch vor, dass Kindern entführt und in den Dienst des IS gezwungen werden. Die "Welt" hat gerade von einem solchen Fall berichtet. Der Prozess der Rekrutierung läuft im Wesentlichen gleich ab; Horgan hat in seiner Forschung sechs Stufen ausgemacht.
1. Sozialisierung
Kinder, die im Gebiet des IS aufwachsen, sind ständig mit den Symbolen und den Regeln der Terrormiliz konfrontiert. Bei Hinrichtungen schauen auch die Jungen zu, so werden sie früh mit der allgegenwärtigen Gewalt konfrontiert. Kleine Geschenke wie Süßigkeiten helfen, schnell das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. In einem Artikel für das Fachblatt "Foreign Affairs" verglichen Horgan und Bloom das Vorgehen der Terroristen mit dem eines Sexualstraftäters. So wie der sich das Vertrauen der Kinder erschleiche und es dann an Pornografie gewöhne, gewöhne der IS den Nachwuchs an die Gewalt.
2. Schulung
Diesen Punkt nennt Horgan "weiche Indoktrinierung". Der IS kontrolliert Schulen, Moscheen und Waisenhäuser, wo die Kinder mit der islamistischen Lehre in Kontakt kommen. "Dort sind sie dem IS direkt ausgesetzt", sagt Horgan. Zwar stünden vor allem in Syrien noch die alten Lehrer vor den Klassen, sie unterrichten aber nur, was der IS absegnet.
3. Auswahl
Die Anwerber schauen sich die Kinder genau an – wer eignet sich gut als Scharfschütze, wer kann geschickt reden? "Da sind richtige Talentsucher unterwegs", sagt Horgan. Diese Strategie erzeuge auch eine Art von Wettkampf unter den jungen Anwärtern.
4. Unterwerfung
Wer von den Anwerbern auserkoren wird, landet bei den "Ashbal", den jungen Löwen – vorausgesetzt, er ist mindestens zehn Jahre alt. Die Jüngeren werden aufgefordert, sich bereit zu halten und in der Zwischenzeit als Spitzel Dienste zu leisten. Für die Ausbildung der 10- bis 15-Jährigen existieren spezielle Camps. Der IS behauptet, es gebe hunderte solcher Lager, John Horgan hält das für eine Propagandalüge: "Genau kann ich es nicht sagen, aber ich halte eine Zahl von zwölf für realistisch." Jedes dieser Camps kann zwischen 100 und 150 Kindern aufnehmen. Dort werden sie in Uniformen gesteckt, militärisch gedrillt und brutalisiert. Geflohene Kinder berichten von Übungen, in denen die Kinder eine Enthauptung simulieren. Der wichtigste Punkt, so Horgan: Ihr Wille soll gebrochen werden, der IS will volle Kontrolle ausüben. "Sie werden von ihren Familien isoliert, geschlagen, und indoktriniert. So werden sie zu Drohnen gemacht."
5. Spezialisierung
Normalerweise dauert die Ausbildung in diesen Camps anderthalb Monate, manchmal auch mehr, das kommt auf die Spezialisierung an. Denn nicht alle Kinder werden für die selben Zwecke benutzt. Einige werden Scharfschützen, andere bauen Bomben, wieder andere werden in die Städte geschickt, wo sie Gleichaltrige ansprechen sollen. Professor Horgan berichtet von Videos, die offenbar zeigen, dass der IS Zehnjährige benutzt, um andere Kinder zu rekrutieren.
6. Stationierung
Nach der Ausbildung werden die Kinder sofort eingesetzt. Das ist es, was den IS von anderen Terrorgruppen unterscheidet, sagt John Horgan. "Auch andere haben Jugendorganisationen, aber die übernehmen nicht die Aufgaben der Erwachsenen." Das scheint beim IS anders zu sein. Die Kinder foltern, richten Gefangene hin, verüben Selbstmordattentate. "Der IS bedient sich da nicht einem typischen Muster für Terroristen", sagt Horgan. "Die Strategie hat mehr mit den Kindersoldaten gemein, die wir aus Afrika kennen."
Wie erfolgreich der IS Nachwuchs rekrutieren kann, lässt sich allerdings auch für den Forscher schwer sagen. "Keiner weiß genau, wie viele Kinder schon ausgebildet wurden." Die Zahlen schwanken zwischen 1.000 und 5.000. Klar sei allerdings: Gelingt es dem IS, die Camps konstant mit neuen Rekruten zu füllen, könnte relativ rasch eine relevante Masse an neuen Kämpfern entstehen. Das sei für den IS aber auch notwendig, meint Horgan: "In letzter Zeit hatten sie große Probleme mit den ausländischen Kämpfern." Vor allem jene, die aus dem Westen kommen, seien oft schockiert über die brutale Gewalt und ideologisch nicht auf einer Linie mit dem IS. "Also muss der IS nicht nur das Problem lösen, gefallene Kämpfer zu ersetzen. Sondern er muss in die Zukunft investieren: Sie brauchen Leute, die nicht wissen, wie man für sich selbst denkt."
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.