Der eine hat Hitlers Nachfolger in sein Gymnasium eingeladen, der andere prügelte auf Polizisten ein - schon so manchen deutschen Politiker hat die eigene Vergangenheit Jahrzehnte später eingeholt. Wie haben sie reagiert?

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Schon vor Hubert Aiwanger (Freie Wähler) in Bayern haben deutsche Politiker Jugendsünden bekannt oder bedauert - selten freiwillig. Rücktritte gab es in ihren Fällen nicht. Der Kommunikationsexperte Olaf Hoffjann hält es dennoch nicht für ausgeschlossen, dass Aiwanger über die Flugblatt-Affäre stolpern könnte. "Ganz selten ist das eigentliche Vergehen die Ursache für Entlassung oder Rücktritt. Fast immer ist der Umgang mit der Krise der Grund dafür", sagte der Professor für Strategische Kommunikation dem "Fränkischen Tag". Einige Beispiele:

Joschka Fischer

Im Jahr 2001 bekannte sich der damalige Außenminister (Grüne) im Frankfurter OPEC-Prozess zu seiner linksradikalen Vergangenheit in den frühen 70er Jahren. Er gab Gewalttaten gegen Polizisten zu. Als junge Männer seien er und seine Mitstreiter auch von Gewalt fasziniert gewesen, sagte Fischer in der Verhandlung. Erst in einem langsamen Prozess habe er die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik akzeptiert. Fischer hatte im Prozess um den Terroranschlag auf die OPEC-Konferenz in Wien 1975 als Zeuge ausgesagt. Er war als junger Mann Mitglied der militanten Gruppe "Revolutionärer Kampf". Erst nach massiver Kritik der Opposition und Polizei-Vertretern entschuldigte er sich 2001 für seine lange zurückliegenden Gewalttaten. Aus der Opposition wurden Rücktrittsforderungen laut. Fischer zog sich nach der Bundestagswahl 2005 und einer schwarz-roten Koalition aus der Politik zurück.

Jürgen Trittin

Auch der Ex-Bundesumweltminister (Grüne) hatte als junger Mann eine linksextreme Phase – er war Mitglied des Kommunistischen Bundes (KB). 2001 gestand er auf Druck Fehler im Umgang mit dem sogenannten "Mescalero"-Brief von 1977 ein. Auch er habe als Student in der Auseinandersetzung um diesen umstrittenen Nachruf auf den von der Roten Armee Fraktion (RAF) ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback "auf eine vielleicht zu trotzköpfige Art" die Meinungsfreiheit verteidigen wollen, sagte er dem "Stern". Das würde man heute "mit Sicherheit" nicht mehr tun. In dem Brief bekundete der damals anonyme Verfasser seine "klammheimliche Freude" über Bubacks Tod, um anschließend Gewalt als politisches Mittel abzulehnen. Trittin gestand ein, er habe damals nicht sehen wollen, dass unabhängig vom Inhalt "allein die Sprache für die Angehörigen der Opfer unerträglich" gewesen sein musste. "Das war ein schwerer Fehler." Bubacks Sohn hatte Trittins Rücktritt gefordert.

Winfried Kretschmann

Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg (Grüne) war als Student im Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) aktiv. Die linksradikale Kleinstpartei, die sich 1985 auflöste, sympathisierte damals mit Regimen wie der Volksrepublik China unter Mao sowie den Diktatoren Idi Amin in Uganda und Pol Pot in Kambodscha. Kretschmann bezeichnet seine Erfahrungen heute in seinem Lebenslauf als "fundamentalen Irrtum". Dort heißt es: "Das geht mir bis heute nach: Wie kommt es, dass man als gebildeter Mensch auf einmal in so einer Sekte landet? Dass man die Welt nur noch durch einen Tunnelblick sehen kann?"

Ulla Schmidt

Auch die langjährige Bundesgesundheitsministerin und spätere Bundestagsvizepräsidentin (SPD) war in jungen Jahren beim Kommunistischen Bund aktiv - anfangs aus Protest gegen den Vietnamkrieg, wie sie sich 2018 in einem Gespräch mit der "Aachener Zeitung" erinnert. 1977 sagte sie sich los. Der Terror der RAF und "der ganze Umgang mit dem Thema Gewalt hat mich an den Punkt gebracht, an dem ich gesagt habe: Jetzt kann ich nicht mehr." In Schmidts politischer Karriere wurde ihr ihre linksextreme Vergangenheit manchmal vorgehalten. Schmidt, Jahrgang 1949, trat 2021 nicht mehr zur Bundestagswahl an.

Heiner Geißler

Der ehemalige CDU-Generalsekretär (1930-2017) war als Jura-Student Sympathisant der separatistischen Untergrundorganisation Befreiungsausschuss Südtirol, wie er 2005 in einem Interview mit dem Magazin der "Süddeutschen Zeitung" bekannte. Die Organisation habe mit Sprengstoffanschlägen für die politische Unabhängigkeit Südtirols von Italien gekämpft. "Ich habe um 1960 mehrmals Dynamit durch die Alpen transportiert – allerdings unwissentlich (...) Ich war von Kletterfreunden gebeten worden, einen Rucksack mit Ausrüstung in ein bestimmtes Tal zu bringen", sagte Geißler. Erwischt worden sei er nicht. "Die Südtiroler haben niemals Gewalt gegen Personen ausgeübt. Wenn die mal was gesprengt haben, dann waren es faschistische Mussolini-Denkmäler und dann mal eine kurze Zeit lang Elektromasten. Das war grenzwertig. Heute ist Südtirol das Vorbild europäischer Integration."

Uwe Barschel

1963 lud der spätere schleswig-holsteinische Ministerpräsident auf Anregung seines Geschichtslehrers als Schülersprecher den Großadmiral a.D. und Hitler-Nachfolger, Karl Dönitz, zu einer Fragestunde in sein Gymnasium in Geesthacht ein. Dönitz stellte seine Sicht auf Krieg, Nationalsozialismus und Nürnberger Prozesse dar. Weder Lehrkräfte noch Schülerinnen und Schüler stellten kritische Fragen. Später lobte ein Lokalredakteur die Begegnung als "Geschichtsunterricht in höchster Vollendung". Danach schlugen Wellen der Empörung im In- und Ausland hoch. Der Schulleiter war diesem Druck nicht gewachsen und nahm sich das Leben. Die "Dönitz-Affäre" schadete Barschels politischer Karriere in der Jungen Union und später in der CDU nicht. Sie endete 1987, als ihm im Landtagswahlkampf die Bespitzelung des SPD-Kandidaten Björn Engholm vorgeworfen wurde. Barschel bestritt das, trat aber zurück. Er wurde später in einem Genfer Hotel tot aufgefunden. (dpa/spl)  © dpa

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