Patienten zwangsweise zu behandeln, darf ohnehin nur das letzte Mittel sein. Doch was, wenn das die Gesundheit Betroffener beeinträchtigt und es Alternativen gäbe? Ein Fall fürs Verfassungsgericht.
Das Bundesverfassungsgericht befasst sich mit einer speziellen Problematik bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen. Es geht um eine gesetzliche Vorgabe, nach der ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber betreuten Menschen nur im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchgeführt werden dürfen.
Aus Sicht des Bundesgerichtshofs (BGH) ist diese Regelung nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, das soll das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe nun prüfen. Ein Urteil wird erst in einigen Monaten erwartet. (Az. 1 BvL 1/24)
Alternativer Behandlungsort statt Retraumatisierung
Konkret geht es um eine Patientin aus Nordrhein-Westfalen, die laut BGH unter anderem an paranoider Schizophrenie erkrankt ist. Sie wohne in einem Wohnverbund und werde regelmäßig in einem nahegelegenen Krankenhaus zwangsbehandelt.
2022 hatte ihr Betreuer den Angaben nach beantragt, der Frau ein Medikament auf der Station des Wohnverbundes zu verabreichen. Er argumentiere, in der Vergangenheit sei der Transport in die Klinik manchmal nur möglich gewesen, indem man die Patientin fixierte. Dies führe bei ihr regelmäßig zu einer Retraumatisierung.
Das Amtsgericht Lippstadt lehnte die sogenannte stationsäquivalente Zwangsbehandlung in der Wohneinrichtung ab. Das Landgericht Paderborn wies die Beschwerde des Betreuers zurück. So landete der Fall beim BGH.
Nach dessen Überzeugung ist die Verpflichtung, eine solche Zwangsmaßnahme in einem Krankenhaus durchzuführen, mit der aus Artikel 2 des Grundgesetzes folgenden Schutzpflicht des Staates vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit unvereinbar. Konkret werde dies gerade bei Betreuten, "die aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können".
Hat Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum überschritten?
Die vom Gesetzgeber angeführten Gründe, weshalb für die Betroffenen vermeidbare Gesundheitsbeeinträchtigungen hinzunehmen sind, beruhen nach Ansicht des BGH auf nicht vertretbaren Einschätzungen. So habe er zum Beispiel nicht berücksichtigt, dass es vielfach wesentlich eher dem Wohl und (mutmaßlichen) Willen von Betroffenen entsprechen werde, im eigenen Wohnumfeld behandelt zu werden - statt aus diesem möglicherweise gewaltsam herausgerissen, in eine nicht vertraute (stationäre) Krankenhausumgebung gebracht und dort eine erhebliche Zeit lang festgehalten zu werden. Daher kommt der BGH zu dem Schluss, der Gesetzgeber habe sein Gestaltungsermessen überschritten.
Der Erste Senat am Verfassungsgericht unter Vorsitz von Präsident Stephan Harbarth will bei der Verhandlung am Dienstag (10.00 Uhr) Fachleute zum gesetzgeberischen Spielraum befragen. Auch soll es unter anderem um Belastungen und Gefahren für Betroffene sowie die Berücksichtigung des ursprünglichen freien Willens Betroffener gehen.
Patientenschützer: Individuelle Gegebenheiten berücksichtigen
Der BGH geht in seinen Erläuterungen unter Berufung auf die damalige Begründung des Gesetzentwurfs davon aus, dass die grundlegende Frage "nicht lediglich einen seltenen Einzelfall" betreffe. Menschen mit einer psychischen Erkrankung, bei denen eine sogenannte Depotmedikation mit Neuroleptika in regelmäßigen Abständen wiederholt werden soll und bei denen aus medizinischer Sicht die ärztliche Zwangsmaßnahme nicht in einem Krankenhaus durchgeführt werden müsste, seien eine zahlenmäßig relevante Gruppe.
Eine konkrete Konstellation mit gesundheitlichen Folgen im Zuge einer Zwangsmaßnahme dürfte es nach Einschätzung der Deutschen Stiftung Patientenschutz eher selten geben. Trotzdem sei es aber gerade für diese Gruppe wichtig, dass sich das Karlsruher Gericht mit der Thematik befasse, sagte Vorstand Eugen Brysch. "Es gibt bislang keinen Ermessensspielraum." Wichtig sei aber, die individuellen Gegebenheiten zu berücksichtigen.
Der Bundesverband der Berufsbetreuer*innen (BdB) kann sich moderate Lockerungen der Regeln vorstellen unter sehr strengen Voraussetzungen - etwa den Einsatz speziell geschulter Fachbetreuer und Fachbetreuerinnen. "Es ist zu befürchten, dass erste Ausnahmen vom Verbot einer ambulanten Zwangsbehandlung zu einer Art „Dammbruch“ führen könnten, weil eine Behandlung im eigenen Wohnumfeld von Dritten als eine weniger einschneidende Maßnahme angesehen wird", erklärte BdB-Jurist Kay Lütgens. Der Betreuungsgerichtstag, ein Fachverband unter anderem aus Juristen und Fachkräften aus sozialen, pflegerischen und ärztlichen Berufen, ist hingegen strikt gegen Änderungen.
Aus Sicht des BGH tut es auch nichts zur Sache, dass es in der Verhandlung konkret um die alte Fassung eines Gesetzes geht. Auch laut der 2023 in Kraft getretenen Nachfolgeregel dürfe ein Betreuungsgericht eine ärztliche Zwangsmaßnahme nur dann genehmigen, wenn die Durchführung der Maßnahme in einem Krankenhaus ergehen soll. (dpa/ank)
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.