Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni wollte die Migration "stark bekämpfen". Seit ihrem Amtsantritt aber haben sich die Ankunftszahlen nahezu verdoppelt. Italiens Rechte steht unter Druck und greift nun auch demokratische Institutionen an.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lea Hensen sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wem nichts mehr einfällt, der teilt aus. Und so fährt Italiens rechte Regierung derzeit eine Hetzkampagne gegen eine Richterin aus Catania, die vergangene Woche vier Tunesier aus einem Abschiebezentrum freigesetzt hat. Die Inhaftierung der Asylbewerber sei nicht rechtens, sagte sie, Italiens neue Regeln gegen Migranten nicht verfassungskonform. Die Regierung kündigte an, in Berufung zu gehen.

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Darüber hinaus schreckt die rechtspopulistische Lega nicht davor zurück, im Privatleben der 59-Jährigen zu wühlen. Drei Videos sind inzwischen aufgetaucht, sie stammen aus dem Jahr 2018 und sollen beweisen, dass Iolanda Apostolico parteiisch ist.

Man sieht die Juristin auf Demonstrationen gegen die damalige Migrationspolitik, die Flüchtlingsboote vor Italiens Häfen festsetzte. Ein Mann steht an ihrer Seite, wahrscheinlich ihr Partner. Sofort absetzen, fordert Lega-Chef Matteo Salvini: "Aus Respekt vor allen Italienern und Institutionen."

136.000 Migranten kamen bislang in 2023 nach Italien

Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sitzt zunehmend in der Klemme. War sie doch mit dem Versprechen angetreten, die Migration in Italien "hart zu bekämpfen". Doch haben sich die Ankunftszahlen seit ihrem Amtsantritt fast verdoppelt. Etwa 136.000 Migranten sind bis Oktober nach Italien gekommen – im Jahr 2022 waren es im selben Zeitraum 73.000, im Jahr 2021 48.000. In den letzten Wochen waren vor allem die Ankünfte auf Lampedusa dramatisch gestiegen.

Im September verabschiedete die Regierung Regeln für schnellere Abschiebungen. Das betrifft vor allem Asylbewerber aus "sicheren Herkunftsländern", sie sollen umgehend in Haft kommen. Die Behörden haben dann statt zwölf nun bis zu 18 Monate Zeit für eine Entscheidung.

Die Inhaftierten können sich für 5.000 Euro freikaufen, was Juristen sofort als rechtswidrig bezeichneten – natürlich verfügen nur wenige Migranten über diese Mittel. Abschiebezentren soll es bald überall im Land geben. Abgeschoben wird, wer sich fälschlicherweise als minderjährig ausgibt und wer sich straffällig macht, selbst wenn er über ein Bleiberecht verfügt. Nun bleibt abzuwarten, ob die Regeln juristisch standhalten. Denn inzwischen haben zwei weitere Richter in Catania und Florenz geurteilt, dass sie verfassungswidrig sind.

EU-Pakt mit Tunesien liegt auf Eis

Aber nicht nur die Rechtsprechung macht Melonis Migrationspolitik einen Strich durch die Rechnung. Die Ministerpräsidentin wollte illegale Migranten bereits in Nordafrika stoppen. Auf ihre Initiative hin unterzeichnete die EU im Juli ein Abkommen mit Tunesien. Darin verpflichtete sich Machthaber Kais Saied zu wirtschaftlichen Reformen – und sollte im Gegenzug Finanzhilfen in Millionenhöhe bekommen. Gleichzeitig sollte er den Grenzschutz verstärken und gegen Schleuser vorgehen.

In der vergangenen Woche ließ Saied dieses Abkommen aber wieder platzen. "Almosen" nannte er die Zuschüsse. Tunesien sei zwar zur Zusammenarbeit bereit, nehme aber "keine Gefälligkeit" an, "wenn sie respektlos" sei. Der EU kommt der Schachzug des autoritären Herrschers ganz gelegen: Umstritten war das Abkommen von vorneherein, richtig ausgearbeitet war es darum auch nicht.

Saied schürt seit Monaten die rassistische Gewalt gegen Schwarzafrikaner in Tunesien, lässt Oppositionelle einsperren und Migranten in der Wüste aussetzen. Beim EU-Treffen in Granada an diesem Wochenende betonten deswegen mehrere Länder ihre Vorbehalte gegen den Pakt mit dem Diktator. Meloni verliert ihre Unterstützer: Nicht einmal ihre Verbündeten Ungarn und Polen sind noch auf ihrer Seite.

Geändert hat sich auf der Mittelmeerroute ohnehin nicht viel. Im Gegenteil: Nur noch mehr Migranten haben sich auf den Weg nach Italien gemacht, weil sich die Sache mit dem Abkommen offenbar rumspricht: Die wirtschaftliche und soziale Lage in Tunesien hat sich weiter verschlechtert.

Die These mit dem "Pull-Faktor"

In ihrer Hilflosigkeit sucht die italienische Regierung gerne den Sündenbock in Deutschland. Zwar haben beide Länder vergangene Woche der Krisenverordnung der EU-Asylreform zugestimmt und damit ihren diplomatischen Streit erstmal beendet. Zuvor hatte Meloni die Verhandlungen jedoch blockiert. Grund waren zwei Millionen Euro, mit denen der Bundestag bestimmte NGOs bei der Seenotrettung fördert. Meloni sieht darin einen "Pull-Faktor" für Migranten.

Die Lega-Partei wählte wie gewohnt beißende Worte. "Vor 80 Jahren beschloss die deutsche Regierung, mit der Armee in Staaten einzumarschieren", sagte Andrea Crippa, stellvertretender Geschäftsführer, gegenüber "Affariitaliani". "Aber das ging schief und jetzt finanzieren sie die Invasion illegaler Einwanderer, um Regierungen zu destabilisieren, die den Sozialdemokraten nicht gefallen."

Die These mit dem "Pull-Faktor" hält einer Überprüfung allerdings kaum stand: Immerhin waren NGOs in den ersten sieben Monaten diesen Jahres nur an rund vier Prozent aller Rettungen beteiligt. Im Vorjahreszeitraum war es ein Anteil von mehr als 15 Prozent. Mehrere Studien sprechen dafür, dass eher günstiges Wetter und instabile Umstände in den Herkunfts- oder Transitländern die Abfahrten fördern.

Hinzu kommt ein alter Vorwurf: Länder wie Deutschland und Frankreich würden Italien mit den Flüchtlingen allein lassen. Dabei wurden die meisten Asylanträge im vergangenen Jahr laut Eurostat in Deutschland gestellt (243.825), gefolgt von Frankreich (156.455) und Spanien (117.945). Italien liegt auf Platz fünf (77.200), noch hinter Österreich (109.775). Andererseits ist auch ein anderes Missverhältnis in der Migrationsfrage eine Tatsache: Während Deutschland die meisten Asylanträge in der EU bearbeiten muss, hat Italien als Mittelmeerland de facto mit höheren Ankunftszahlen zu kämpfen.

Verwendete Quellen:

Asylreform: EU-Staaten verständigen sich auf weiteres Kernelement

Welche Regeln sollen gelten, wenn besonders viele Migranten auf irregulärem Weg in die EU kommen? Die Regierungen der Mitgliedstaaten stritten lange über diese Frage. Nun gibt es einen Kompromiss.
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