Mehrfach haben Missbrauchsskandale die katholische Kirche erschüttert. Nun hat sie in einer Studie entsprechende Fälle für Deutschland aufarbeiten lassen. Demnach soll es 1.670 Täter und 3.677 Opfer sexueller Gewalt geben. Die Opferzahlen könnten jedoch weitaus höher sein. Der Grund: Die Studie ist Experten zufolge nicht gut gemacht, es fehle ihr an Transparenz.

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Wie steht es um den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Priester und Ordensleute bei der katholischen Kirche in Deutschland? Diese Frage beschäftigte ein Forschungskonsortium der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen.

Offizieller Titel: "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz". In Auftrag gegeben wurde die Studie von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK).

Die Ergebnisse, die vorab vom "Spiegel" und der "Zeit" veröffentlicht wurden, sind erschütternd und lassen auch viele Fragen offen.

Wie viele Opfer und Täter gibt es?

Die Forscher werteten mehr als 38.000 Personal- und Handakten aus 27 deutschen Bistümern aus. Für den Zeitraum von 1946 bis 2014 erfasst die Studie sexuelle Vergehen an 3.677 Minderjährigen – überwiegend Jungen. Mehr als die Hälfte soll zum Tatzeitpunkt maximal 13 Jahre alt gewesen sein. In jedem sechsten Fall soll es zu unterschiedlichen Formen der Vergewaltigung gekommen sein. 1.670 Kleriker gelten als Täter.

Kardinal Marx sagte kurz vor der Präsentation der Studie in Fulda: "Wir sind erschrocken und tief erschüttert über das, was möglich war im Volk Gottes, durch Priester, die den Auftrag des Evangeliums hatten, Menschen aufzurichten."

Kirchliche Amtsträger müssten nun verstärkt auf "die dunklen Seiten" ihres Lebens und "des Lebens der ganzen Kirche" schauen. Die Opfer, die Betroffenen hätten ein Anrecht auf Recht und Gerechtigkeit.

Man müsse das Gespräch mit den Betroffenen suchen. Marx fügte an: "Ich schäme mich für das Vertrauen, das zerstört wurde, für die Verbrechen, die Menschen durch Amtspersonen der Kirche angetan wurden, und ich empfinde Scham für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist und die sich nicht um die Opfer gesorgt haben."

Welche Schwächen hat die Studie?

Kriminologe Christian Pfeiffer zeigte sich schockiert über die Zahlen. Betroffen ist er ebenso über "das unfassbare Ausmaß der Nichtachtung gegenüber den Opfern und des Verschweigens und Vertuschens".

Kirchenkenner Andreas Püttmann ("Gesellschaft ohne Gott") reagiert mit den Worten: "Dass 4,4 Prozent der Kleriker seit 1946 durch sexuellen Missbrauch aktenkundig wurden, übertrifft frühere Annahmen und erschreckt. Besonders verstörend finde ich den Befund der geringen Reue unter den Tätern."

Allerdings sind weit mehr Missbrauchsfälle zu befürchten. So verweisen die Autoren der Studie selbst auf ein großes Dunkelfeld, das bei solchen Straftaten ohnehin vorhanden ist.

Außerdem seien Akten manipuliert und in mindestens zwei Bistümern vernichtet worden. Wie bekannt wurde, sollen die Forscher auch keinen Zugriff auf Originalakten bekommen haben. Das Material sei vorselektiert gewesen.

Experten wie der Kriminologe Christian Pfeiffer werfen den deutschen Bischöfen deshalb mangelnde Transparenz vor. Es sei nicht zu verstehen, dass den Autoren der Studie kein Zugang zu Originaldokumenten in den Kirchenarchiven eingeräumt worden sei.

Namen nicht zuzuordnen

"Die Bischofskonferenz hat mit dieser Entscheidung ihre eigene Forschung massiv entwertet", sagte Pfeiffer. "Eine Folge davon ist, dass die Wissenschaftler ihre Erkenntnisse nicht den einzelnen Diözesen und den verantwortlichen Bischöfen zuordnen konnten", kritisierte Pfeiffer.

Es sei daher zum Beispiel nicht nachzuvollziehen, wer jeweils einen auffällig gewordenen Priester einfach in eine andere Gemeinde versetzt habe, so wie dies immer wieder vorgekommen sei. Nur volle Transparenz schaffe Vertrauen, betonte Pfeiffer: "Die Bischofskonferenz hat das bisher leider nicht verstanden."

Ähnlich sieht es der Kirchenrechtler Thomas Schüller. Hätten die Autoren der Studie direkt in alle Akten Einsicht nehmen können, "wäre sicher die Zahl der aufgedeckten Fälle größer, und sie hätten präziser die männerbündischen klerikalen Machtstrukturen analysieren können", sagte er.

Außerdem habe es unter den 27 Bistümern auch Diözesen, die nur sehr begrenzt auskunftswillig gewesen seien. "Nicht alle Bischöfe scheinen verstanden zu haben, dass das Thema Missbrauch zur Überlebensfrage der Kirche geworden ist."

Welches Problem hat die katholische Kirche?

Schüller kritisiert die geradezu absolutistische Struktur der Kirche. "Der Vatikan funktioniert nach wie vor wie ein Regierungsapparat zur Zeit des Sonnenkönigs in Frankreich", sagt Schüller. Es handle sich um "ein höfisches System ohne checks and balances, ohne Gewaltenteilung". Das setzt sich im Prinzip in jedem Bistum fort - überall bestimmt der vom Papst ernannte Bischof nahezu unumschränkt, und ein eigener kleiner Hofstaat schart sich um ihn herum.

Die mangelnde Transparenz verhindere eine grundlegende Aufarbeitung, meint Kriminologe Pfeiffer. "Vertrauen ist das große Kapital jeder Kirche." Dieses lasse sich nach dem Bekanntwerden des Skandals nur wiederherstellen, wenn die Kirche aus den Vorgängen personelle und strukturelle Konsequenzen ziehe.

Kriminologe Pfeiffer kritisiert auch das Zölibat. "Es liegt doch auf der Hand, dass das Zölibat den Missbrauch fördert. Warum hat die evangelische Kirche keinen Missbrauchsskandal, sondern nur einzelne Fälle?" Ein weiterer Beleg ist für ihn: Priester werden nach den Ergebnissen der Studie fünfmal häufiger auffällig als katholische Diakone – die im Gegensatz zu den Priestern heiraten dürfen.

Für Pfeiffer ist klar: "Evangelische Pfarrer und Diakone können ihre Sexualität frei leben. Hinzu kommt, dass der Zölibat den Priesterberuf für sexuell reichlich verklemmte Männer attraktiv macht. Würde man es aufgeben, gäbe es nicht nur deutlich mehr Bewerbungen für den Beruf des Priesters. Parallel dazu würde der Anteil solcher Bewerber deutlich sinken, die ein hohes Missbrauchsrisiko bedeuten."

Was sagen Politiker zur Studie?

Die SPD-Ministerinnen Franziska Giffey und Katarina Barley fordern eine ernsthafte Auseinandersetzung der Kirche mit den Ergebnissen. "Wir brauchen eine ehrliche und umfassende Aufarbeitung in der katholischen Kirche", erklärte Giffey in Berlin. "Ich erwarte schonungslose Aufklärung und sehe die Studie nur als Ausgangspunkt."

"Der Rechtsstaat kann nur funktionieren, wenn ihm Taten gemeldet werden. Die Kirche muss durch unabhängige Untersuchungen sicherstellen, dass das Leid der Opfer dokumentiert und die Verbrechen der Täter aufgeklärt werden", sagte Barley. ‎Nur wenn sich die katholische Kirche ernsthaft der Debatte über Machtstrukturen und Sexualmoral stelle, könne sie Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. "Schweigekartelle darf es nicht mehr geben", betonte Barley.

Johannes-Wilhelm Rörig, Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, geht noch weiter. Er forderte zu Entschädigungszahlungen auf. "Das ist noch eine offene Wunde", sagte Rörig am Dienstag im ZDF-"Morgenmagazin". Mit der Frage, was hier angemessen sei, müsse sich die Deutsche Bischofskonferenz in Fulda beschäftigen.

Die Studie ersetzt keine strafrechtlichen Ermittlungen; die meisten Missbrauchsfälle aus der Vergangenheit sind sowieso schon lange verjährt.

Rörig forderte die Kirche zudem auf, die weitere Aufarbeitung der Missbrauchsfälle staatlichen Behörden zu übergeben. Dies sollten Kirche, Bund und Länder vertraglich regeln, bekräftigte er.

(fab/dpa)

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