Im ORF-Magazin "Kreuz und quer" wurde Dienstagabend darüber diskutiert, was jugendliche Dschihadisten antreibt. Werden Jugendliche zunehmend von links und rechts radikalisiert? Experten glauben: Ja. Und haben zumindest Lösungsansätze parat.

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Es seien unsichere Zeiten, sagen Politiker und einige Medienvertreter. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache beschwor am Montag gar einen Bürgerkrieg in Österreich herbei. Doch wie ernst ist die Lage wirklich?

Jürgen Mannemann von der Universität Hannover sagte dazu in einer Expertenrunde der ORF-Sendung "Kreuz und quer": "Angesichts der Zahl der jungen Menschen, die sich radikalisieren lassen, läuft zweifelsohne viel schief."

Mannemann gibt die Schuld dem sogenannten passiven Nihilismus, also dem Resignieren. Junge Menschen hätten keinen Halt mehr. "Diese Menschen werden von einer Lebensfeindschaft getrieben, durch eine Lebensverachtung, bedingt durch Lebensuntauglichkeit."

Diese wiederum werde durch Diskriminierung und Identitätslosigkeit geprägt. Sehr oft spiele auch ein Rachegedanke im Namen der älteren Generationen eine Rolle, glaubt der katholische Theologe und Philosoph.

Starker Wunsch nach Abgrenzung

Der Wiener Integrationsexperte Kenan Güngör urteilt: "Diese jungen Menschen treibt der Wunsch nach Abgrenzung. Sie haben ein Bedürfnis nach Heldentum." Diese Abgrenzung werde bei Gläubigen zum Beispiel durch eine sehr einseitige Interpretation des Korans zum Ausdruck gebracht.

Dass Fundamentalisten aber in allen Religionen zu finden sind, bestätigt Mirja Kutzer, Theologin an der Uni Kassel: "Auch das Christentum versucht irgendwie mit diesem schwankenden Boden der Gesellschaft umzugehen, kann aber bisher auch keine Antwort liefern." Eine klare Antwort auf das Radikalisierungsproblem hat auch Kutzer nicht.

Eine gänzlich andere Theorie, nämlich jene, dass es überhaupt keine neuen Probleme in der Gesellschaft gebe, vertritt Martin Seel, Philosoph an der Universität Frankfurt: "Diese Motivationselemente des Ausgrenzens gibt es nicht erst seit dem IS, das gab es beispielsweise schon bei der RAF."

Dass diese radikalen Strömungen also ein Übel unserer Zeit wären, verneint Seel: "Die Demokratie setzt voraus, dass jeder so leben darf, wie er leben will. Es gab und gibt keinen sicheren Halt."

Junge Menschen verlieren Kontrolle über das Leben

Doch worum geht es den Dschihadisten dann? Was treibt einen jungen Mann deutscher Herkunft an, sich einer Terrororganisation anzuschließen? Mannemann sieht das Problem darin, dass junge Menschen die Kontrolle über das eigene Leben verlieren.

Dieser psychische Kontrollverlust führe dazu, dass sie sich wehren würden. Diese Perspektivenlosigkeit existiere, weil die Vorstellung, wie die Welt sein sollte, abhanden gekommen sei.

Deshalb müsse "die Fähigkeit zum Mitgefühl in deren Augen vernichtet werden", analysiert Mannemann. "Diese Menschen sind bereit, nur noch den Tod des anderen in den Fokus zu stellen, um jeden Preis. Im Vergleich zu Amokläufern zielt der Dschihadist nicht deizidiert auf den Selbstmord ab, sondern nimmt ihn lediglich in Kauf. Bei Amokläufern gehst es um die Selbstdarstellung, die Inszenierung des Selbstmords."

Es fehlt an Werten

Was müsste man Jugendlichen anbieten, um sie auf einen korrekten Weg zu bringen? Der gemeinsame Tenor: Man müsse jungen Menschen wieder Werte liefern.

"Junge Menschen müssen Werte fühlen, die Erfahrung erleben, dass sie durch ihr Handeln ihre Umwelt verändern können", sagt Mannemann. Zudem brauche es eine größere Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und Gelassenheit gegenüber Umständen, die man ad hoc selbst nicht ändern könne. Diese Fähigkeit zur Resilienz müsse weiter gefördert werden.

Zur Demokratie gehört die Wertvorstellung der Toleranz

Ob der aktuelle Trend Traditionen und Werte wieder aufleben zu lassen dabei helfen könne, bezweifelt der Philosoph Martin Seel: "Werte werden nicht aus dem Nichts geschaffen. Die Berufung auf Werte ist der Versuch durch eine artifizielle Selektion von Eigenschaften so etwas wie den angeblich verlorenen Zusammenhalt herzustellen. Das geht aber nicht, weil diese Werte von Natur aus partikular sind."

Wertorientierung sei wichtig, aber nicht nur eine einseitige. Zu einer Demokratie gehöre nämlich auch die Wertvorstellung der Toleranz.

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