Von Patienten mit "irrsinniger Anspruchshaltung" spricht Andreas Gassen, Vorsitzender der Bundesvereinigung der Kassenärzte, in einem Interview. Viele, behauptet er, würden das Gesundheitssystem "gnadenlos ausnutzen". Er will Patienten dazu anregen, sich auf einen Arzt zu beschränken. Wir haben die Fakten zusammengestellt.
Patienten fürchten eine Wiedereinführung der sogenannten Praxisgebühr. Wie hat sie funktioniert?
Die Praxisgebühr wurde im Jahr 2004 eingeführt. Für die Konsultation eines Facharztes ohne Überweisung oder die Inanspruchnahme des Notdienstes der Krankenhäuser wurden damals pauschal zehn Euro fällig. Untersuchungen zeigten, dass die Arztbesuche der Patienten daraufhin um etwa zehn Prozent zurückgingen.
Kritiker gehen davon aus, dass vor allem Geringverdienende und Rentner Arztbesuche aufschoben. Folge könnte gewesen sein, dass dem Gesundheitssystem durch zu spät behandelte Krankheiten hohe Folgekosten entstanden. Auch aus diesen Gründen wurde die Gebühr 2012 wieder abgeschafft.
Was genau hat Andreas Gassen gesagt?
Gassen gab als Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) der "Neuen Osnabrücker Zeitung" am 7. September ein Interview, in dem er das Patientenverhalten in Deutschland mit harschen Worten geißelte. Er unterstellte, Patienten gingen "erst zu Ikea, dann in die Notfallambulanz", ihre "Anspruchshaltung" sei "mitunter irrsinnig".
Auf die Frage, ob er die Rückkehr der Praxisgebühr fordere, antwortete Gassen, es könne "dauerhaft kaum jedem Patienten sanktionsfrei gestattet bleiben, jeden Arzt jeder Fachrichtung beliebig oft aufzusuchen, und oft noch zwei oder drei Ärzte derselben Fachrichtung".
Was genau fordert die Kassenärztliche Bundesvereinigung?
Mittlerweile rudert die KBV zurück. In einer Mail an unsere Redaktion erklärt Pressesprecher Roland Stahl, der Verband habe "nicht gefordert, dass Patienten sanktioniert werden sollen, die zu häufig einen Arzt aufsuchen". Es gehe stattdessen darum, den Versicherten "eine Wahloption zu überlassen".
Patienten würden sich beispielsweise in speziellen Verträgen mit ihrer Krankenkasse verpflichten, "immer zuerst zu einem bestimmten Arzt zu gehen". Sie würden davon in Form von "Incentives" profitieren, also durch bestimmte Anreize.
Gehen die Deutschen wirklich so oft zum Arzt?
17,7 mal pro Jahr soll nach manchen Untersuchungen der durchschnittliche Deutsche zum Arzt gehen. Es gibt auch statistische Angaben, die deutlich unter diesem Wert liegen: Die Plattform Statista gibt zehn Arztbesuche pro Kopf in Deutschland an. Experten gehen davon aus, dass die Zahlen in den letzten Jahren gestiegen sind.
Strittig ist aber die Aussagekraft von Durchschnittszahlen: 50 Prozent der Arztbesuche gehen von nur 16 Prozent der Patienten aus. Sagt das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung in Deutschland (ZI). Die Hälfte der Deutschen geht nach dessen Untersuchung zehnmal pro Jahr zum Arzt, ein Viertel sogar nur viermal. Aber ein weiteres Viertel beansprucht 22 mal und öfter ärztliche Hilfe.
Was sind die Gründe für die vielen Arztbesuche?
Nach Angaben der Krankenkassen sind in Deutschland Rückenschmerzen der häufigste Anlass, zum Arzt zu gehen, in der Rangliste folgt der Bluthochdruck, dann folgt der Gang zum Augenarzt wegen Fehlsichtigkeit. Platz vier belegen Probleme mit Stoffwechsel und Cholesterinwerten, auf Platz fünf liegen Grippe und grippale Infekte.
Der Untersuchung des ZI zufolge gehen viele Arztbesuche auf Dialysepatienten zurück. Das Blutreinigungsverfahren bedarf häufiger Arztbesuche, wenn es ambulant von Medizinern durchgeführt wird. Der Mediziner, Wissenschaftler und NDR-Moderator Johannes Wimmer (Sendung: "Visite, Wissen ist die beste Medizin") führt im Gespräch mit unserer Redaktion weitere Erkrankungen an, die für die Betroffenen häufige Arztbesuche zur Folge haben, etwa Krebs, Autoimmunerkrankungen, psychische Erkrankungen und Diabetes.
Wo liegt Deutschland im internationalen Vergleich bei den Arztbesuchen?
Deutschland liegt bei der Zahl der Arztbesuche pro Jahr im oberen Mittelfeld, in Japan, Korea, aber auch in Ungarn, Tschechien und der Slowakei liegt sie höher. Die Systeme sind international nur sehr schwer zu vergleichen, weil die Patienten auf sehr unterschiedliche Art und Weise an der Finanzierung beteiligt sind – zum Beispiel durch Zahlungen an Krankenversicherungen oder an die staatliche Gesundheitsvorsorge.
In Großbritannien gilt das so genannte "Primärsystem": Patienten müssen zuerst den Hausarzt aufsuchen, der dann entscheidet, ob weitere Ärzte hinzugezogen werden müssen und welche das sind. In den USA ist das System sehr viel offener, doch ist dort die Gesundheitsfürsorge mit erheblichen Eigenleistungen der Patienten verbunden.
Wäre eine "Strafgebühr" wirklich durchsetzbar?
Selbst die KBV will von "Sanktionen" nichts mehr wissen, weder von den Parteien noch von anderen Organisationen wird eine Patientengebühr gefordert. Da die Praxisgebühren schon einmal eingeführt und wieder abgeschafft wurden, wären sie politisch wohl schwer durchsetzbar.
Gibt es andere Möglichkeiten, das Gesundheitssystem zu entlasten?
"Fernseh-Mediziner" Johannes Wimmer sieht vielerlei Versäumnisse im deutschen Gesundheitssystem und auch bei den Ärzten. So resultierten etwa zehn Prozent der Arztbesuche daraus, dass Patienten die Erklärungen des Arztes oder die Medikation nicht verstehen "Die Ärzte haben zu wenig Zeit und erklären deshalb schlecht", sagt Wimmer.
Seiner Ansicht nach ließe sich das Problem durch gute Onlineberatung reduzieren. Dem Ärzteverband KVB bescheinigt er, "ein bisschen entfernt vom Tagesgeschäft" zu sein. Patienten dafür zu bestrafen, dass sie zum Arzt gehen, findet er inakzeptabel. Die Bürger, betont er, zahlten sehr viel für die Krankenkassen und sollten sich nicht dafür entschuldigen müssen, dass sie zum Arzt gehen.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit dem Mediziner, Wissenschaftler und TV-Moderator Johannes Wimmer
- Mail der KBV vom 16.9.
- "Erst Ikea, dann Notfallambulanz" – Neue Osnabrücker Zeitung vom 7.9.2019 (nicht online abrufbar)
- Arztbesuche und Praxisgebühr – Bundeszentrale für politische Bildung
- krankenkassen.de: Deutsche gehen oft zum Arzt
- Gesundheitsleistungen international – Veröffentlichung der OECD 2009
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