Nun ist die beliebteste Figur der Ukraine ihren Posten los – Präsident Selenskyj hat Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj entlassen und macht damit nicht nur sich das Leben schwer. Vor welchen Hürden der neue General Syrskyj steht und warum er dennoch an einen reibungslosen Wechsel glaubt, erklärt Ukraine-Experte Heiko Pleines.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Auch wenn es längst erwartet wurde – für viele war die Entlassung es ukrainischen Oberbefehlshabers Walerij Saluschnyj ein einschneidendes Ereignis. In sozialen Medien teilen seine Fans Bilder und Videos von ihm, erweisen ihm Ehre, danken ihm für seinen Einsatz im Kampf gegen den Invasoren Russland.

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Die beliebteste Figur der Ukraine, die Person, der die Menschen am meisten Vertrauen schenkten: gefeuert. Wie wird es weitergehen? Welche Pläne verfolgt Präsident Selenskyj mit seinem Personalmanagement und: Vor welchen Herausforderungen steht Saluschnyjs Nachfolger Oleksander Syrskyj? Ein Überblick.

Warum musste General Saluschnyj gehen?

Beobachter hatten bereits vor längerer Zeit mit Sorge darauf geblickt, dass Selenskyj womöglich versuchen würde, politische Widersacher aus dem Rampenlicht zu nehmen. Und dem beim Volk äußerst beliebten Saluschnyj wurden immer wieder politische Ambitionen nachgesagt. Auch der Politikwissenschaftler und Osteuropa-Experte Heiko Pleines erkennt in der Entlassung Saluschnyjs ein solches Motiv. Doch eben nicht nur dieses.

Auf schriftliche Anfrage unserer Redaktion erklärt er, dass im Wesentlichen zwei Motive genannt werden. Das zweite beziehe sich auf die militärische Planung. Der Leiter der Abteilung Politik und Wirtschaft und stellvertretende Direktor der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen meint, Saluschnyj habe sich öffentlich – und anscheinend ohne vorherige Absprache – deutlich skeptischer zur ukrainischen Gegenoffensive im Jahr 2023 geäußert als Selenskyj. Es könnte also sein, dass es um die Außendarstellung ging.

Um Selenskyjs Ruf womöglich? Pleines erklärt, Selenskyj habe eine andere militärische Strategie gewollt als Saluschnyj. Strategische Verwerfungen also, die einen Personalwechsel unabdingbar machten. Für Pleines der wahrscheinlichste Fall. Dennoch erklärt er: "Im Zweifelsfall haben die Motive zusammengespielt und sich gegenseitig verstärkt."

Doch der Experte erklärt auch: "Selenskyj hatte in einem Interview bereits angekündigt, dass es nicht um die Person Saluschnyj, sondern um eine größere personelle Neuausrichtung geht." Selenskyj sei, wenn es um die Neubesetzung von Positionen gehe, vergleichsweise schnell. "Es entsteht der Eindruck, dass er inhaltliche Probleme durch Personalwechsel lösen will."

War es klug, dass Selenskyj die schillerndste Figur des Landes entließ?

Nachdem nun die vertrauensvollste Person in der Ukraine ihren Posten los ist, stellt sich die Frage, ob die große Popularität des Generals nicht negative Folgen für Selenskyj hat. "In der Armee sollte es keine Probleme geben", meint Pleines. Denn das hierarchische Prinzip sei dort etabliert. Zudem habe Saluschnyj bisher öffentlich keine politischen Ambitionen gezeigt und Selenskyj habe sich bemüht, ihn ohne Streit und in Ehren zu entlassen.

"Ob das funktioniert hat, muss sich erst noch zeigen", so Pleines. Wegen des anhaltenden Kriegszustands stünden allerdings sowieso keine Wahlen an – selbst wenn der General also Ambitionen gehabt hätte, seine Handlungsmöglichkeiten wären zunächst einmal begrenzt.

Aus der Opposition kommt heftige Kritik an Selenskyjs Entscheidung. Der Parlamentsabgeordnete Olexij Gontscharenko von der Partei Europäische Solidarität meint etwa, seine Haltung zur Entlassung Saluschnyjs sei negativ, sehr negativ. "Dies ist ein großer Fehler von Selenskyj. Das kann große Risiken für das Land bergen. Wir alle werden für diesen Fehler bezahlen."

Der ARD-Journalist Vassili Golod sagte in den "Tagesthemen" sogar, Selenskyj gefährde die nationale Einheit der Ukraine. "Saluschnyj und Selenskyj, die beide ein hohes Vertrauen genießen, haben für diese nationale Einheit gesorgt, ob das mit Syrskyj auch so laufen wird – das steht infrage."

Das britische Magazin "The Economist” sieht in der Entlassung allerdings eine unumgängliche Aktion. Hier heißt es: "Es war wohl unvermeidlich, dass sich mit zunehmender Dauer des Krieges die Abgründe der normalen Politik auftun würden." Die Politik in der Ukraine sei "ein nackter Kampf um Ressourcen und Macht, finanziert von Oligarchen und Fraktionen – und heutzutage auch von ausländischen Geldgebern".

Unter diesen Umständen sei es richtig gewesen, den General zu entlassen. "In einer Demokratie müssen sich die Streitkräfte den Politikern unterordnen. Die Autorität von General Saluschnyj als Oberbefehlshaber war bereits durch die Gerüchte über seine Entlassung fatal geschädigt worden. Je länger Selenskyj zu schwach zu sein schien, ihn zu entlassen, desto mehr litt auch seine eigene Autorität."

Wer ist der neue Oberbefehlshaber Olexander Syrskyj?

Syrskyj wurde 1965 in der russischen Region Wladimir geboren, erst seit den 1980er Jahren lebt er in der Ukraine. Sein harter Führungsstil wird von vielen Soldaten kritisiert, laut der Nachrichtenagentur Reuters führen Militäranalysten seine Taktik auf dem Schlachtfeld auf seine hierarchische sowjetische Ausbildung zurück. Denn wie viele ukrainische Führungspersonen seines Alters studierte Syrskyj in Moskau.

Nachdem er 1986 graduiert hatte, diente er fünf Jahre lang im sowjetischen Artilleriekorps. Seit 2019 ist Syrskyj Chef der ukrainischen Landstreitkräfte. Als 2014 prorussische Separatisten Gebiete in den Regionen Donetsk und Luhansk besetzten, hatte er ukrainische Truppen im Kampf befehligt.

Die Rückeroberung der Kiew- und der Charkiw-Region im Jahr 2022 wird größtenteils ihm zugeschrieben, genauso wie die erfolgreiche Verteidigung der Hauptstadt Kiew. Dennoch genießt er kein besonders großes Vertrauen in der Bevölkerung, was vor allem auf den Kampf um die ostukrainische Stadt Bachmut zurückzuführen ist.

Anfang 2023 leitete Syrskyj die Verteidigung Bachmuts – diese endete in einer der blutigsten Schlachten des bisherigen Krieges. Tausende von Soldaten ließen dort ihr Leben.

Vor welchen Herausforderungen steht Syrskyj?

Für den Politikwissenschaftler Heiko Pleines stellt sich die Frage, ob der Personalwechsel die militärische Verteidigungsfähigkeit beeinträchtigt. Wegen Syrskyjs Vorerfahrung im Krieg, sollte Pleines‘ Meinung nach ein reibungsloser Wechsel möglich sein.

"Es gibt Berichte, dass Syrskyjs Führungsstil teilweise nicht gut ankommt. Bisher deutet aber nichts darauf hin, dass dies ein ernsthaftes Problem werden könnte", teilt er mit. "Die zentrale Frage ist aber, ob es jetzt tatsächlich zu einem größeren Wechsel der militärischen Strategie kommt und wie dieser dann aussieht."

Pleines warnt vor dem Risiko, dass die Ukraine aufgrund ihrer derzeitigen Probleme, die aktuelle Frontlinie zu halten, alles auf eine Karte setzt und in einer erneuten Offensive die eigenen Kräfte überschätzt. "In diesem Zusammenhang ist auch wichtig, wie schnell und wie gut der Ukraine die Mobilisierung zusätzlicher Soldaten gelingt."

Die ersten Aussagen von Syrskyj als neuem Oberbefehlshaber sprächen aber nicht für einen grundlegenden Strategiewandel. "Er betont den Einsatz unbemannter Waffensysteme und die elektronische Kriegführung, eine verbesserte Versorgung der Truppen aus dem Hinterland und eine Rotation von Truppen, um Soldaten eine Pause von Kampfeinsätzen zu ermöglichen", erklärt der Experte. Diese Schwerpunkte zeigten gleichzeitig, dass versucht werde, mit weniger Soldaten auszukommen – die vom Vorgänger Saluschnyj geforderte Mobilisierung also nicht im vollen Umfang durchzuführen.

Die größten Herausforderungen für den Neuen in der Führungsriege sind laut Pleines die Popularität Saluschnyjs und die zunehmenden Probleme bei der Versorgung mit Munition und Waffen. Wie er mit diesen Hürden umgehen wird, muss er unter strenger Beobachtung der ukrainischen Bevölkerung erst noch beweisen.

Über den Experten:

  • Heiko Pleines leitet seit 2008 den Arbeitsbereich Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Er lehrt Integrierte Europa-Studien und Politikwissenschaft. Bereits seit den 1990er Jahren forscht Pleines zur Ukraine. Zudem war er als Gastwissenschaftler etwa in Kiew, Harvard und Moskau eingeladen. Er ist zudem Mitherausgeber der Länder-Analysen der Bundeszentrale für politische Bildung.

Quellen:


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