• In der südukrainischen Schwarzmeermetropole finden Binnenvertriebene Asyl.
  • Aber die russischen Angriffe auf die Millionenstadt nehmen zu.
  • Denn die Einnahme Odessas ist Putins erklärtes Ziel.
Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Wolfgang Rössler. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Sauerstoffmaske ist keine drei Finger breit. Groß genug für das viel zu früh geborene Baby, dessen Bauch sich alle zehn Sekunden krümmt. Die kleine Lunge arbeitet noch nicht richtig. Aber immerhin: Das Mädchen wird durchkommen.

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Davon ist die junge Ärztin Anna Bantowskaja überzeugt. Auf der Intensivstation des Kinderkrankenhauses Nummer eins in Odessa mangelt es zwar an vielem, dem medizinische Personal wird allerhand an Fantasie abverlangt. "Aber wir können den kleinen Patientinnen und Patienten trotzdem eine vollständige und kostenlose medizinische Betreuung bieten", sagt sie im Gespräch mit unserer Redaktion. Das Krankenhaus in einem Außenbezirk der Millionenstadt am Schwarzmeer ist für viele kranke Kinder aus dem Süden der Ukraine die einzige Möglichkeit zu überleben.

Auch das Frühchen kommt aus den umkämpften Gebieten weiter östlich, wo es praktisch keine medizinische Intensivversorgung für Babys gibt. Es wird überleben, weil sich seine Eltern nach Odessa durchschlagen konnten.

Die Ruhe in Odessa ist trügerisch

Die größte ukrainische Hafenstadt, eine wirtschaftliche Hauptschlagader des Landes, ist derzeit noch ein relativ sicheres Rückzugsgebiete für Binnenvertriebene. Und das, obwohl die Einnahme Odessas ein erklärtes Ziel des russischen Diktators Wladimir Putin ist. Von hier aus werden immer noch jährlich Millionen Tonnen Getreide in die halbe Welt verschifft. Fällt Odessa, wäre die Ukraine wirtschaftlich ruiniert.

Noch aber ist die "Perle des schwarzen Meeres", wie Odessa wegen des milden Klimas und der von Schriftstellern wie Isaak Babel gepriesenen luftigen Leichtigkeit des Lebens gerne genannt wird, für russische Truppen unerreichbar. Die Front verläuft hundert Kilometer weiter östlich, vor der Schwesterstadt Mykolajew. Dort tobt ein erbitterter Kampf, täglich detonieren Raketen und Marschflugkörper, die Infrastruktur der Großstadt mit rund einer halben Million Einwohnerinnen und Einwohnern ist zu weiten Teilen lahmgelegt. Selbst Trinkwasser muss in Tankwagen herangeschafft werden.

Auch die Ruhe in Odessa ist trügerisch. In den letzten Tagen detonierten Marschflugkörper in den Vororten und legten die Stromversorgung kurzzeitig lahm. Beinahe jeden Tag heulen die Sirenen, weil das russische Militär sogenannte Kamikaze-Drohnen iranischer Bauart über Odessa fliegen lässt. Die riesigen Flugobjekte mit einer Flügellänge von bis zu vier Metern sollen Ziele in der Innenstadt bombardieren. Meist können sie von Scharfschützen abgeschossen werden. Dennoch gibt es auch in der Innenstadt von Odessa immer wieder Todesopfer.

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Wer kann, schickt den Nachwuchs in den Westen

Vor allem aber verbreiten die Drohnen mit ihrem ohrenbetäubenden Krach Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Man sieht wenige Kinder auf den Straßen. Der Unterricht erfolgt in den meisten Schulen online, über Videoschaltungen. Wer kann, schickt den Nachwuchs in den Westen.

Für die Jungen geht das Leben aber dennoch weiter. Zwar ist der Hafen militärisches Sperrgebiet, weil hier unzählige Landminen liegen. Auch vor der berühmten Potemkischen Treppe, dem Wahrzeichen von Odessa, ist eine Barrikade aus Sandsäcken, Autoreifen und Panzersperren aufgebaut.

In der Innenstadt merkt man aber wenig vom Krieg. Die Bars und Kaffeehäuser sind voll, abends flanieren junge Liebespaare durch die Straßen. Man will sich die Leichtigkeit nicht nehmen lassen – auch wenn es schwerfällt. "Die Gesichter der Menschen sind fahler geworden", sagt Karina Beiglzimer, eine Journalistin und Deutschlehrerin an einem odessitischen Gymnasium.

Der Bürgermeister von Odessa will mit Putin nichts mehr zu tun haben

Bis Kriegsbeginn Ende Februar sei Odessa eine weitgehend unpolitische Stadt gewesen. Die vor rund 230 Jahren von Zarin Katarina der Großen gegründete Hafenstadt ist stark russisch geprägt, nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung sprach im Alltag Ukrainisch. In der weltoffenen, multikulturellen Hafenstadt spielten nationalistische Befindlichkeiten früher keine große Rolle. Das hat sich nun geändert.

Die meisten Leute sprechen jetzt auch im Alltag Ukrainisch, selbst wenn die Sprachkenntnisse eingerostet sind. Auch der Bürgermeister von Odessa, Hennadij Truchanow, will mit Putin nichts mehr zu tun haben. Vor einigen Jahren kam er über eine prorussische Bürgerliste ins Rathaus, der Oligarch war berüchtigt für undurchsichtige Geschäfte in Moskau und besaß lange einen russischen Reisepass.

Mit Beginn der Invasion hat er sich von den Machthabern im Nachbarland abgewandt. "Herr Putin hat Russland in eine Nation des Tötens verwandelt", sagte er im Sommer in einem Interview mit der "New York Times".

An Liftfaßsäulen kleben Propagandaplakate

Anders als in den annektierten Regionen der Ostukraine gibt es in Odessa kaum noch Sympathien für Russland. Auf fast jedem Hauseingang in der Innenstadt sind die ukrainischen Nationalfarben gemalt. Die blau-gelbe Flagge flattert über Kirchentoren, Supermärkten und sogar über Laufhäusern. Die einst unpolitische Hafenstadt wurde von einer patriotischen Aufwallung erfasst. An Litfaßsäulen kleben Propagandaplakate mit Durchhalteparolen und dem Aufruf an Frauen, sich wie die Männer zur Armee zu melden.

Die 26 Jahre alte Kinderärztin Anna Bantowskaja trägt einen blau-gelben Lidschatten. Kurz nach Beginn der Invasion, als es heftige Angriffe auf Odessa gab, war sie nach Deutschland geflohen. Aber nach einigen Wochen kam sie wieder zurück. Bantowskaja wollte "ihre" Kinder nicht im Stich lassen. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen warf sie Geld zusammen, um Medikamente zu kaufen. Denn in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn fehlte es im Kinderhospital nicht nur an Personal und Ausrüstung, sondern auch an Geld.

Inzwischen hat sich die Situation gebessert. Das liegt nicht zuletzt am italienischen Salesianer-Orden, der das Krankenhaus finanziell und personell unterstützt, in Kooperation mit der österreichischen NGO "Jugend Eine Welt".

Vermeintliches Spielzeug entpuppt sich als Sprengfalle

"Unter anderem konnten wir sicherstellen, dass das Personal von zwei Binnenvertriebenen unterstützt wird", erzählt Nothilfekoordinator Wolfgang Wedan. Eine Ärztin und eine Krankenschwester aus dem besetzten Donbas kümmern sich nun zusätzlich um die kleinen Patientinnen und Patienten, polnische Salesianer-Nonnen betreuen die kranken Kindern.

Und manchmal auch Erwachsene. Etwa Bogdana B., eine schwer traumatisierte Mutter aus Cherson. Sie sah zu, wie ihre Tochter ein vermeintliches Spielzeug vom Boden aufhob. Es war eine von russischen Soldaten am Spielplatz platzierte Sprengfalle. "Booby Trap" lautet der unerträglich verharmlosende Fachbegriff für solche Bomben. Das Mädchen wurde buchstäblich zerfetzt. Bogdana B. konnte fliehen und sich nach Odessa durchschlagen, wo sie nun psychologisch betreut wird.

Wolfgang Wedan organisiert auch regelmäßig Transporte mit medizinischen Hilfsgütern nach Odessa. Der letzte Kleinlastwagen aus Wien kam Ende September im Krankenhaus an, mit dringend benötigten Beatmungsgeräten und Medikamenten. "Die Fahrt von Wien hat drei Tage gedauert", sagt Wedan. Die Route ging über die Slowakei nach Lwiw im Nordwesten der Ukraine, dann quer durch das Land in den Süden.

In Odessa geht die Angst um

Bis vor einer Woche galt der Westen der Ukraine als relativ sicher. Doch nach der mutmaßlich von Kiew veranlassten Sprengung der Brücke vom russischen Festland auf die annektierte Krim schwor Putin Revanche. Seither werden wieder Ziele im Westen wie Kiew oder Lwiw beschossen. Auch in Odessa heulen immer öfter die Sirenen.

Schon länger geht in der Hafenstadt die Angst um. Denn durch die Teilmobilisierung in Russland sollen Hunderttausende weitere Soldaten in die Ukraine geschickt werden. Man fürchtete, dass eine Übermacht feindlicher Truppen die Küstenregion im Süden einfach überrennen könnte.

Noch ist Odessa ein sicherer Hafen für Menschen, die vor dem Krieg fliehen müssen. Aber es gibt keine Garantie, dass das auch in Zukunft so bleibt.

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