Lange hat der ukrainische Präsident Selenskyj seinem obersten Militär Saluschnyj vertraut. Doch unter dem Druck des russischen Angriffskrieges nahm interner Streit zu, und das hat nun Konsequenzen.

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Fast zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, von seinem Posten entbunden worden. Das teilte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag in seiner abendlichen Videobotschaft in Kiew mit. Zum Nachfolger sei Generaloberst Olexander Syrskyj ernannt worden, der bisherige Kommandeur der ukrainischen Landstreitkräfte.

Selenskyj bedankt sich für Zusammenarbeit

Vorher traf sich der Präsident mit seinem obersten Militär. "Ich habe ihm für zwei Jahre der Verteidigung gedankt", schrieb Selenskyj auf seinen Blogs in sozialen Netzwerken. "Wir haben darüber gesprochen, welche Erneuerung die ukrainischen Streitkräfte brauchen." Es sei auch darum gegangen, wie die Führung der Armee erneuert werden könne. "Die Zeit für eine Erneuerung ist jetzt." Selenskyj sagte, er habe Saluschnyj angeboten, "weiter Teil des Teams zu bleiben".

Auch Verteidigungsminister Rustem Umjerow dankte dem scheidenden Oberbefehlshaber. Er schrieb aber auf Facebook, die Schlachten der Jahre 2022, 2023 und 2024 seien "unterschiedliche Realitäten". 2024 werde Veränderungen bringen. "Neue Ansätze, neue Strategien sind nötig."

Von Erfolgen zu öffentlicher Uneinigkeit

Saluschnyj war im Juni 2021 als Oberkommandierender der ukrainischen Streitkräfte eingesetzt worden. Unter seiner Führung hielten die Truppen dem russischen Einmarsch vom Februar 2022 stand. Sie eroberten im Lauf des ersten Kriegsjahres sogar besetzte Teile des Gebietes Charkiw und die Gebietshauptstadt Cherson im Süden zurück. Der 50-jährige Saluschnyj war auch der Architekt der ukrainischen Sommeroffensive 2023, die aber gegen stark befestigte russische Verteidigungsanlagen kaum vorankam.

In einem aufsehenerregenden Artikel für die britische Zeitschrift "The Economist" schrieb der General davon, dass der Krieg am Boden in eine Pattsituation geraten sei. Nur große Waffenlieferungen und ein Technologiesprung könnten die ukrainischen Streitkräfte wieder in die Offensive bringen. Selenskyj widersprach seinem höchsten Militär bei dieser Einschätzung öffentlich.

Selenskyj wünschte sich wohl einen Rücktritt

Auch in der Frage einer weiteren Mobilisierung von Soldaten waren die führenden Verantwortlichen für die ukrainische Kriegsführung uneins. Nach Medienberichten hatte Selenskyj den Oberbefehlshaber schon Ende Januar zum Rücktritt gedrängt; dieser lehnte demnach aber ab.

Bei seinen Soldaten und in der Bevölkerung galt der bullige General als äußerst beliebt. Deshalb kamen immer wieder Spekulationen auf, der Militär strebe eine eigene politische Karriere an. Er selbst dementierte dies. Saluschnyj ist in den ukrainischen Streitkräften einer der ranghohen Offiziere ohne Vorprägung durch die frühere sowjetische Armee. Er setzte deshalb auf Kommandostrukturen, die sich am Vorbild der Nato orientieren.

Der Präsident setzt auf ein "Führungsteam"

Der Präsident erklärte nun, ein "neues Führungsteam" werde die Leitung der ukrainischen Streitkräfte übernehmen. Er habe die Erneuerung der Armeeführung mit Saluschnyj besprochen. Die Ukraine brauche einen "realistischen" Schlachtplan für 2024. Der neue Armeechef Syrskyj sei der "General mit der größten Erfahrung" in der ukrainischen Armee.

Der neue Armeechef Syrskyj war im Spätsommer und Herbst 2022 für die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive im Osten und Süden der Ukraine verantwortlich. Damals eroberte die Armee Gebiete in der ostukrainischen Region Charkiw sowie unter anderem die südukrainische Stadt Cherson von den russischen Besatzern zurück.

Saluschnyj räumte nach dem Treffen mit Präsident Selenskyj ein, dass die Militärstrategie der Ukraine sich "ändern" müsse. Die Aufgaben seien 2022 "anders" gewesen als im Jahr 2024, erklärte er. Alle müssten sich "an die neuen Realitäten anpassen", um "zusammen zu gewinnen".

Saluschnyj genießt hohes Ansehen in der Bevölkerung

Präsident Selenskyj schrieb nach dem Treffen aber auch, er habe Saluschnyj angeboten, weiterhin Teil des "Teams des ukrainischen Staats" zu sein. "Ich wäre dankbar für seine Zustimmung", schrieb Selenskyj weiter.

Der nun ausgetauschte Militärchef genießt in der Ukraine hohes Ansehen, seit die Armee in den ersten Kriegsmonaten die scheinbar übermächtigen russischen Truppen zurückdrängte. Auch in der Truppe ist der 2021 ernannte Saluschnyj weithin beliebt, viele Soldaten sehen in ihm eine Vaterfigur.

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Selenskyj und Saluschnyj waren im vergangenen Herbst deutlich geworden. Im November hatte der Präsident dem Militärchef öffentlich widersprochen. Bei einer Pressekonferenz zusammen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Kiew wies er die Aussage Saluschnyjs zurück, es gebe an der Front eine "Pattsituation".

Saluschnyj hatte kurz zuvor in einem Interview mit dem "Economist" gesagt, es gebe entlang der Frontlinie einen Abnutzungs- und Stellungskrieg. "Wie im Ersten Weltkrieg haben wir ein technologisches Niveau erreicht, das uns in eine Pattsituation bringt", sagte der General. Es werde "sehr wahrscheinlich" keinen "tiefen" Durchbruch geben.

Anfang 2024 forderte Saluschnyj in einem Gastbeitrag für das Online-Portal des US-Nachrichtensenders CNN die Modernisierung der Gesetzgebung zum Militär in der Ukraine. Zudem müssten "unpopuläre" Entscheidungen getroffen werden, um mehr Soldaten zu mobilisieren.

Medien berichten zwischen Rivalität zwischen Selenskyi und dem einstigen Armeechef

Mehrere ukrainische Medien berichteten zudem, Selenskyj blicke mit Argwohn auf die große Beliebtheit des Armeechefs.

Dessen 58 Jahre alten Nachfolger Syrskyj spielte im Jahr 2022 in den ersten Kriegswochen wie Saluschnyj selbst eine wichtige Rolle beim Zurückdrängen des russischen Versuchs, die ukrainische Hauptstadt Kiew zu erobern. Anders als sein Vorgänger ist Syrskyj aber vielen Menschen im Land kein Begriff. In einer im Dezember 2023 veröffentlichten Umfrage gaben 48 Prozent der Befragten an, noch nie von ihm gehört zu haben.

Zudem haftet dem noch zu Sowjetzeiten ausgebildeten Kommandeur ihn Teilen der Truppe der Ruf an, bei der Verfolgung strategischer Ziel wenig Rücksicht auf Verluste in den eigenen Reihen zu nehmen. (dpa/phs/jst)

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