- Das Bürgergeld ist eins der Hauptprojekte der Ampel-Koalition. Mit dem Nachfolger von Hartz IV steigen die Regelsätze, Sanktionen werden gelockert, Schonvermögen erhöht. Reicht das?
- Birgit Kessler hat acht Kinder und ist seit über 20 Jahren Sozialhilfeempfängerin.
- Was sie über das Bürgergeld denkt, lesen Sie hier.
Birgit Kessler (Name geändert) weiß nicht, was es bedeutet, ohne Geldsorgen einzuschlafen. Sie kennt es nicht, in den Supermarkt zu gehen und nach Lust und Laune einzukaufen statt nach Angebot und Rabattcoupon. Sie kennt die Vorfreude auf einen Urlaub nicht, sondern vielmehr die Angst vor dem nächsten kaputten Haushaltsgerät. "Ich bin in Armut aufgewachsen und lebe seit über 20 Jahren mit Sozialhilfe", sagt die 42-Jährige.
Gerne wäre Kessler, die in der Umgebung von Hamburg wohnt, Erzieherin geworden. Doch sie hatte gerade ihren Hauptschulabschluss in der Tasche, als sie mit dem ersten Kind schwanger wurde. Da war sie gerade 18. Als ihre Freundinnen sich Lehrstellen suchten und in Lohn und Arbeit kamen, kümmerte sich Kessler um ihre Tochter. Nach der Schwangerschaft erkrankt sie an Krebs. Sie überstand die Chemotherapie, ab dann sollte alles bergauf gehen.
"Für meine Kinder ist das ziemlich hart"
Der Ausbildungsvertrag bei einem Modehändler hätte nur noch unterschrieben werden müssen. "Doch dann stellte ich fest, dass ich schon im dritten Monat schwanger war", erinnert sich Kessler. Heute ist sie Mutter von acht Kindern im Alter zwischen vier und 24 Jahren. Überhaupt nach Arbeit zu suchen, kam irgendwann nicht mehr infrage. Wie eine so große Familie mit Nebenjobs ernähren? Wann eine Weiterqualifizierung machen? "So bin ich nie in eine Berufstätigkeit eingestiegen", sagt Kessler.
Es bedrückt sie. "Ich weiß, dass ich auf Kosten von arbeitenden Menschen lebe", sagt sie. Für sie selbst sei es kein Problem, an allen Ecken und Enden zu sparen – für die Kinder aber tut es ihr leid. "Für meine Kinder ist das ziemlich hart", gibt sie zu. Fünf Kinder leben noch zu Hause, sieben Personen wohnen somit auf knapp 100 Quadratmetern zusammen. Ein eigenes Zimmer war nie im Horizont ihrer Sprösslinge.
"Meine Kinder wissen, dass wir arm sind. Wir gehen offen damit um und sprechen viel darüber", sagt die 42-Jährige. Die Kinder wüssten: Wünsche am besten zu Monatsbeginn anmelden, dann ist noch Geld da.
Hartz IV wird zu Bürgergeld
Ändert sich das mit der Einführung des Bürgergeldes? Die Ampel-Regierung hat das Ende von Hartz IV beschlossen und schafft mit dem Nachfolger weitreichende Änderungen ab dem 1. Januar 2023: Die Regelsätze steigen, für einen alleinstehenden Erwachsenen zum Beispiel um 53 Euro von 449 Euro auf 502 Euro.
Außerdem sollen Bürgergeld-Bezieher in den ersten beiden Jahren in ihrer Wohnung bleiben können, auch wenn sie eigentlich zu groß ist. Lockerungen gibt es auch beim auf Dauer gewährten Schonvermögen. In Zukunft bleiben Ersparnisse bis zu 15.000 Euro pro Person unangetastet, bisher waren es 150 Euro pro Lebensjahr – bei einer 40-jährigen Person also 6.000 Euro. Im ersten halben Jahr werden Sanktionen ausgesetzt, danach kann das Bürgergeld bei Pflichtverletzungen um bis zu 30 Prozent gekürzt werden.
"Dann esse ich eben etwas weniger"
"Aktuell haben wir nach Abzug unserer Kosten ungefähr 1.000 Euro zum Leben im Monat", rechnet Kessler vor. Von Kindergeld und Sozialhilfeleistungen gingen zum Beispiel Internet, Telefonkosten, Fahrkarten und Lebensmittel ab. Aktuell muss sie oft 'Nein' sagen, wenn sich ein Kind neue Schuhe wünscht. "Ich versuche es aber immer möglich zu machen", sagt Kessler und schiebt hinterher: "Dann esse ich eben etwas weniger".
Doch durch die gestiegenen Lebensmittelpreise kann sie das kaum noch abfedern. "Ein Kilogramm Hackfleisch für acht Euro ist oft nicht drin, auch wenn sich jemand Spaghetti Bolognese gewünscht hat", sagt Kessler. Rücklagen hat die Familie in keiner Form. "Ich spare ohne Ende", sagt sie. Kessler fürchtet: "Die Umstellung auf Bürgergeld werden wir kaum merken. 50 Euro mehr sind viel zu wenig!" Um einen Unterschied zu machen, müssten es aus ihrer Sicht 100 oder 150 Euro sein.
Mehr von Regierung erwartet
Wenn ein Kind frage, ob es mit einem Freund oder einer Freundin in die Stadt gehen könne, werde sie weiterhin schlucken müssen. "Fünf oder sechs Euro für einen Bubble Tea sitzen nicht so locker", sagt sie. Das Energiegeld sei so schnell weg gewesen, wie es gekommen sei. "Von einer Regierung mit SPD und Grünen habe ich da mehr erwartet", gibt sie zu. Das Prinzip Gießkanne hält Kessler ebenso für falsch wie die Sanktionen gegen Russland.
"Sie schaden uns und wir haben selbst genug Rentner, die Flaschen sammeln", meint Kessler. Aus ihrer Sicht muss sich aber nicht nur beim Regelsatz etwas tun: "Es muss mehr für Kinder getan werden. Es gibt kaum mehr Anlaufstellen und Jugendclubs", klagt sie.
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Schlaflose Nächte wegen steigender Preise
Die steigenden Preise machen der 42-Jährigen Angst, trotz Maßnahmen der Bundesregierung. "Die Regelsätze sind für mich selbst nicht zu niedrig, aber für die Kinder", findet sie. Es müssten keine Marken-Klamotten sein, doch trotzdem reiche es nicht. Geburtstagsgeschenke kauft sie schon Monate vorher, im Angebot bei Lidl oder Aldi. Zum 12. Geburtstag ihrer Tochter gab es zuletzt eine Leinwand und eine Airbrush-Pistole.
Die Kostenübernahme für Ausflüge und Schulmaterialien könne man zwar beantragen, aber: "Was ist mit dem spontanen Kinobesuch mit einem Freund in der Stadt?", fragt Kessler. In der Vergangenheit ist sie bereits zur Tafel gegangen, aktuell sieht sie aber davon ab. "Der Zulauf bei unserer Tafel ist so groß, wenn ich dran bin, ist kaum noch etwas da", sagt sie.
Wenn Menschen ihr sagen: "Dann geh doch arbeiten!" verletzt das die achtfache Mutter. "Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich arbeiten gehen", betont sie. Auch wenn die Nebenkosten größtenteils vom Amt getragen würden, spare die Familie Energie, wo es nur gehe. Und jetzt, wo die Kinder etwas größer sind, macht ihr Mann aktuell eine Umschulung zum Speditionskaufmann. "Damit wir irgendwann nicht mehr vom Amt abhängig sind. Arbeiten lohnt sich, allein um den Kindern ein Vorbild zu sein", findet Kessler.
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