Ein Gründer der türkischen Regierungspartei erklärt seinen Rücktritt - und legt damit offen, welch tiefe Risse die AKP durchziehen. Eine neue Konkurrenzpartei würde für Präsident Erdogan nichts Gutes bedeuten.

Mehr aktuelle News finden Sie hier

Es ist kein Geheimnis, dass es in der türkischen Regierungspartei seit langem gärt. Mit dem Austritt eines der Gründer der islamisch-konservativen Partei für Entwicklung und Gerechtigkeit (AKP) sind die internen Spannungen nun für alle sichtbar geworden.

Der frühere Wirtschaftsminister Ali Babacan machte "tiefe Differenzen" zwischen der Politik von Präsident Recep Tayyip Erdogan und seinen eigenen "Prinzipien, Werten und Ideen" geltend, als er am Montag seinen Austritt aus der Partei erklärte.

Gezi-Proteste als Wende

Die Partei stand in ihren ersten Jahren für politische und wirtschaftliche Öffnung und Reformen. Nach der Übernahme der Regierung 2002 gelang es der AKP, die türkische Wirtschaft aus der Krise zu führen und auf Wachstumskurs zu bringen.

Im Zuge des EU-Beitrittsprozesses stärkte sie zudem Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit und packte brisante Themen wie den Kurdenkonflikt und die Armenierfrage an.

Erdogan

Erdogan verärgert mit Rüstungsgeschäften NATO-Partner

Die Rüstungsgeschäfte zwischen der Türkei und Russland missfallen vor allem den US-Amerikanern. Vorschaubild: imago images / Kyodo News

Doch diese Zeit ist längst vorbei. Seit den Gezi-Protesten von 2013 reagiert Erdogan zunehmend unduldsam auf Kritik, und in der Folge des Putschversuchs von 2016 ging er mit großer Härte gegen seine Gegner vor. Mit der Einführung des Präsidialsystems richtete er den Staat ganz auf seine Person aus. Kritiker klagen, dass er sich heute in seinem Palast mit einer Handvoll Beratern und Verwandten umgebe und kaum noch auf Experten höre.

"Gemäßigte" AKP-Mitglieder im Abseits

Einst prägende Figuren wie der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül, der langjährige Außenminister Ahmet Davutoglu und der frühere Wirtschaftsminister Mehmet Simsek sind in der AKP an den Rand gedrängt worden.

Offene Kritik wagten sie kaum. Doch ist klar, dass sie unglücklich sind über die Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit und Schritte wie die Entlassung des Gouverneurs der Zentralbank durch Erdogan vergangene Woche.

Unter den aktuellen Umständen brauche es eine "völlig neue Vision" für die Türkei, erklärte Babacan nun und forderte "neue Strategien, Pläne und Programme".

Babacan plant Konkurrenzpartei zu Erdogans AKP

Als Wirtschaftsminister von 2002 bis 2007 hatte er mit liberalen Reformen den Grundstein für den Aufschwung der Wirtschaft gelegt. Als Vize-Ministerpräsident für Wirtschaftsfragen wachte der Ökonom bis 2015 über die Einhaltung der Prinzipien der Marktwirtschaft.

In den türkischen Medien wird schon lange darüber spekuliert, dass er mit Unterstützung von Gül eine eigene Partei gründen wolle. Laut dem AKP-nahen Journalisten Abdulkadir Selvi bestätigte er Ende Mai in einem Gespräch mit Erdogan seine Absicht, der AKP Konkurrenz zu machen.

Istanbul-Wahl als Fiasko für Erdogan

Allerdings habe er entschieden, mit dem Austritt aus der AKP bis zur Wiederholung der Istanbuler Bürgermeisterwahl Ende Juni zu warten.

Auf Druck von Erdogan war der Sieg der Opposition bei der ersten Wahl Ende März annulliert worden. Doch die Wiederholung geriet zum Fiasko für die AKP, da Oppositionskandidat Ekrem Imamoglu mit deutlich größerem Vorsprung gewann.

In der AKP sorgte die Niederlage für Unruhe und befeuerte Diskussionen über den Kurs der Partei. Nicht wenige sehen in der Abkehr von den liberalen Ursprüngen den Grund für die Niederlage.

Erdogan glaubt nicht an Erfolg Babacans

Auch Davutoglu werden nun Ambitionen nachgesagt, eine eigene Partei zu gründen. In der Presse kursieren zahlreiche Namen von AKP-Politikern, die sich den neuen Parteien anschließen könnten. Der Kolumnist Murat Sabuncu von der Onlinezeitung T24 spricht von einer "Bußbewegung" in der AKP. Viele Mitglieder würden bereuen, so lange zu Erdogans autoritärer Politik geschwiegen zu haben und wollten dies nun wiedergutmachen.

Angesprochen auf Babacans Pläne erinnerte Erdogan allerdings daran, dass schon viele Parteigründungen gescheitert seien. Tatsächlich ist nicht ausgemacht, dass sich eine neue konservative Partei etablieren kann.

Für Barcin Yinanc von "Hürriyet Daily News" fehlt es Babacan an "politischem Verstand und Charisma", um eine Partei zu führen. Doch auch wenn eine neue Partei der AKP "keinen tödlichen Schlag" versetzen dürfte, schreibt sie, könnte sie das politische Gleichgewicht verschieben. (hub/afp)

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.