Bei der zweiten Wahl zum türkischen Parlament binnen fünf Monaten erobert die islamisch-konservative AKP die absolute Mehrheit zurück. Das Ergebnis ist wider Erwarten ein Riesen-Erfolg für Präsident Recep Tayyip Erdogan. Wie es dazu kam? Antworten eines Türkei-Experten.

Ein Interview

Recep Tayyip Erdogan frohlockt. Seine islamisch-konservative Partei AKP holt bei den Wahlen zum türkischen Parlament die absolute Mehrheit aller Stimmen. Und das entgegen allen Umfragen. Das Wahlergebnis gleicht einem "Erdrutschsieg" für den wegen der Kurdenkrise zuletzt von verschiedenen Seiten in die Kritik geratenen Präsidenten. Dieser steht nun einer Ein-Parteien-Regierung vor. Die pro-kurdische und pro-demokratische HDP ist vorerst ausgestochen. Damit hatten die wenigsten gerechnet. Im Interview mit unserer Redaktion erklärt Türkei-Experte Dr. Roy Karadag, welches die Gründe für diesen deutlichen Wahlsieg sind, was Erdogan in die Karten spielte - und welche Politik nun zu erwarten ist.

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Herr Karadag, Recep Tayyip Erdogan holt in der Türkei einen Erdrutsch-Sieg. Damit war nicht zu rechnen, oder?

Dr. Roy Karadag: Sämtliche Umfragen hatten die AKP bei maximal 42 bis 44 Prozent gesehen. Deshalb war das wirklich eine Überraschung.

Wie erklären Sie sich die?

Da kommt viel zusammen. Vielleicht hatte sich im ersten Anlauf eine AKP-Müdigkeit eingestellt, sodass die Partei nicht alle Anhänger mobilisieren konnte. Die AKP hat auch zu radikalen Taktiken gegriffen, indem sie das erste Wahlergebnis nicht anerkannt hat. Das ist in der Geschichte der modernen Türkei einmalig. Noch nie wurden Wahlergebnisse angefochten, nur, weil man keine Koalitionsregierung zustande bekommen hat. Gleichzeitig hat die AKP viele "nationalistische Stimmen" eingesammelt. Dass die HDP so wenige Stimmen bekommt, war nicht zu erwarten.

Die Proteste im Gezi-Park gegen Erdogan liegen nicht lange zurück. Warum war die Gegenseite nicht in der Lage, mehr Wähler zu mobilisieren?

Die Türkei ist ein sehr kreatives Land, was Protest angeht. Auf der Straße und in den sozialen Medien finden sich viele Formen von Widerstand. Es gibt aber nicht die eine demokratische Partei nach Vorstellung der Gezi-Aktivisten. Sprich, die Stimmen müssen verteilt werden. Die Republikanische Volkspartei fängt einige dieser Stimmen auf. Viele Stimmen gingen auch an die pro-kurdische HDP.

Aber?

Die Angriffe der PKK auf Militär und Polizisten haben viel Kredit für die HDP verspielt. Sie wirkt doch sehr kurdisch, was in dieser Gemengelage ein Problem ist. Nach dem Anschlag von Ankara wurde der Wahlkampf quasi eingestellt. Dieser Wahlkampf wurde so sehr von Angst und Polarisierung geprägt, weswegen die Menschen vor allem für mehr Sicherheit, also die AKP stimmten.

Hatte Erdogan nicht auch große Vorteile, zum Beispiel durch seine Dominanz in den Medien?

Nicht unbedingt. Man hat den Syrien-Konflikt vor der Haustüre. Viele Türken fühlen sich von Gewalt bedroht. Auch die Flüchtlingskrise sorgt für sehr viel Unruhe. Die Anschläge indes gingen nicht zu Lasten der AKP.

Inwiefern?

Die AKP muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die Radikalisierung in Syrien mitgetragen hat. Radikale Gruppen werden gegen das Assad-Regime unterstützt. Dass das in Form von Terroranschlägen im eigenen Land zurückschlägt, hätte den einen oder anderen Wähler dazu bewegen können, in der AKP eben nicht den Sicherheitsstabilisator zu sehen.

Das Wahlergebnis ist eindeutig. Welche Politik Erdogans ist zu erwarten?

Innenpolitisch dürfte die AKP sicherlich eine neue Friedenstrategie für die Aussöhnung mit der PKK und den Kurden starten. Erdogan und seine Regierung müssen da jetzt endlich mal liefern. Sie haben in der Vergangenheit genügend Versprechungen gemacht. Deswegen bin ich gespannt darauf, ob es nur Symbolpolitik oder echten Wandel hin zu mehr Frieden geben wird.

Dr. Roy Karadag ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien an der Universität Bremen. Der Islamwissenschaftler gilt als ausgewiesener Türkei-Experte.
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