Knallharte Geschäfte in der Pharmaindustrie: Im "Tatort: Risiken mit Nebenwirkungen" entpuppt sich ein neues Wundermittel als gar nicht wunderbar. Es kommt zu Tod und Koma, und Kommissarin Isabelle Grandjean hat ein schlechtes Muttergewissen. Der neue Fall aus Zürich ist fast so vollgepackt wie ein Beipackzettel – und ähnlich spannend.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Die Berge, der See und die Kommissarin: Isabelle Grandjean rudert allein über den Zürichsee. Es ist früher Morgen, Nebelschwaden unterstreichen die Ruhe. Nur das Boot der Kommissarin schneidet eine energische Rinne durch das Wasser. Die Szene ist natürlich symbolisch: Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zürcher) arbeitet am liebsten allein, und wenn sie eine Spur verfolgt, kann ihre Zielstrebigkeit sie blind machen für Warnsignale der Umgebung und ihrer Mitmenschen.

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Der Zürcher "Tatort" hat sich seit seinem Neubeginn mit dem Team Grandjean und Tessa Ott (Carol Schuler) durch eine wirkungsvolle Bildsprache ausgezeichnet. Der vierte Fall für die Schweizer Ermittlerinnen ist da keine Ausnahme. Bisher allerdings wurde Wert darauf gelegt, die unbekannteren Seiten der Schweizer Geschäftsmetropole zu zeigen.

Es ging in heruntergekommene Fabrikhallen, alternative Kunstszenen, nächtliche Nebenstraßen. Dieses Mal wird die Stadt, sobald es runtergeht vom See, erbarmungslos ausgeleuchtet. "Risiken mit Nebenwirkungen" erzählt einen Pharmakrimi: Kühle Farben, klare Linien. In der Branche herrscht so viel Kälte, da bedarf es keiner dunklen Ecken.

Der Fall: Die junge Klara Canetti (Anouk Petri) sitzt wegen einer seltenen Krankheit im Rollstuhl und ist Testperson für das Medikament Volmelia, das direkt vor der Zulassung steht und eine hochlukrative Sensation für das junge Pharmaunternehmen Argon und dessen ehrgeizigen Star Regula Arnold (Laura de Weck) bedeuten würde. Aber Klaras Zustand scheint sich nach der Einnahme eher verschlechtert zu haben. Weshalb ihre Mutter Argon verklagt hat. Nun treibt die unbarmherzige Spitzenanwältin Corinne Perrault (Sabine Timoteo), die Argon gegen die Canettis vertrat, tot im See.

Natürlich ist Regula Arnold eine Hauptverdächtige – vor allem Tessa Otts Misstrauen gegenüber profitgierigen Pharmakonzernen lassen sie die geschäftstüchtige Frau ins Visier nehmen. Regula Arnold erinnert mit ihrer Mischung aus Charisma, Elan und Ruchlosigkeit an die Unternehmerin Elizabeth Holmes, die als Shootingstar der Biotechnologiebranche galt, bevor sich ihr angeblich bahnbrechendes Bluttestverfahren 2018 als Milliardenbetrug entpuppte.

Isabelle Grandjean dagegen konzentriert ihre Ermittlungen auf Klaras Mutter. Deren Motiv ist nicht nur mütterlicher Beschützerinstinkt. Als Alleinerziehende könnte Dorit Canetti (Annina Butterworth) eine hohe Entschädigungssumme von Argon ganz gut gebrauchen.

Entsprechend erwartungsfroh ist Grandjean, als Klara um ein vertrauliches Treffen mit den Ermittlerinnen bittet. Geradezu gierig setzt die Kommissarin das sichtlich aufgewühlte kranke Mädchen unter Druck – bis Klara zusammenbricht und in ein künstliches Koma versetzt werden muss. Grandjean nimmt sich das aus ganz persönlichen Gründen besonders zu Herzen.

Die Zwickmühlen der Mutterschaft durchziehen unterschwellig den Film. Aber dieses Nebenthema, das vor allem über Isabelle Grandjeans Gewissensbisse erzählt wird, geht zulasten der eigentlichen Krimihandlung. Es wird zu viel Zeit mit den Ermittlerinnen verschwendet, ohne wirklich interessantes Neues über sie zu erzählen.

Dabei hat auch dieser Zürcher "Tatort" (nach einem Drehbuch von Nina Vukovic und Stefanie Veith) wieder viele weibliche Hauptfiguren zu bieten, die sehr lässig und selbstverständlich im Mittelpunkt stehen und mehr Sorgfalt verdient hätten. Die Kanzleichefin Martina Widmer (Therese Affolter) zum Beispiel, der Regisseurin Christine Repond nach eigenen Angaben einen "unnahbaren, eigenwilligen Anna-Wintour-Look" geben wollte, nach der berüchtigten Chefredakteurin der amerikanischen "Vogue". Martina Widmer war nicht nur die Vorgesetzte, sondern auch mütterliche Mentorin der toten Anwältin Corinne und schwankt jetzt seltsam undurchsichtig zwischen Trauer und Geschäftssinn.

Aber weder ihr noch Regula Arnold wird genug Raum gegeben, sich wirklich zu entfalten. Von Klaras Mutter ganz zu schweigen. Die Pharmazeuten sind psychotisch, die Juristen berechnend und die Betroffenen betroffen.

Redlich bemüht sich der Krimi – in steifen Dialogen und mit Hinweisen auf trockene Studien – den kommerziellen Interessen der Pharmaindustrie ihre Verdienste um medizinischen Fortschritt gegenüberzustellen. Auch wird der weiche Kern der toten Anwältin ans Licht gebracht: Zur Verwunderung der Kollegen hat sich Corinne Perrault vor ihrem Tod krank schreiben lassen, was in der Kanzlei ungefähr so häufig vorkommt wie ein Medikament ohne Risiken und Nebenwirkungen in der Pharmaindustrie.

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Aber selbst der Tempowechsel, zu dem es nach Klara Canettis Zusammenbruch kommt, kann nicht mehr viel retten. Zwar herrscht endlich Chaos, kochen endlich die Emotionen hoch und bekommen spiegelglatte Fassaden Risse. Trotzdem ist dieser "Tatort" einfach nur ein solider Durchschnittskrimi mit wenig Ambivalenzen.

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