Eine Woche der Fragen geht zu Ende. Jedenfalls für mich. Die häufigste lautet: Warum? Warum freut man sich seit einiger Zeit mehr über hoffnungsvolle Prognosen von Karl Lauterbach als über ein Super-Like von Leonardo diCaprio bei Tinder? Warum hat Annelena Baerbock in ihrem Lebenslauf nicht auch noch behauptet, schon mal US-Präsidentin, die Erfinderin des iPhones und die Autorin von "Harry Potter" zu sein?
Warum darf Leroy Sané mit zur EM, obwohl er Tony Marshall die Frisur geklaut hat? Und vor allem: Warum freut man sich in Deutschland plötzlich, wenn eine Partei wie die AfD bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt "nur" 20,8 Prozent holt?
Ist es schon so weit? Mussten wir davon ausgehen, dass es auch 30 hätten sein können. Oder mehr? Gibt es jetzt einen Liege-Fahrradkorso durch Prenzlauer Berg, weil nur jeder Fünfte der AfD seine Stimme gegeben hat? Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich ist die AfD eine Alternative. Eine Alternative zur Demokratie. Eine Alternative zur Menschlichkeit, Eine Alternative zur Pressefreiheit und insbesondere eine Alternative zur faktenbasierten Kausalzusammenhängen. Aber nochmal. Jeder Fünfte? Warum?
Ich möchte mal an einem kleinen, plakativen Beispiel aufzeigen, was 20% bedeuten. Statistisch betrachtet ist jeder Fünfte in Sachsen-Anhalt jetzt AfD-Wähler. Statistik ist aber eben eine mathematische Durchschnittsbetrachtung. Statistisch betrachtet hat auch jeder ein Privatvermögen von 1 Million Euro, wenn eine Person 99 alleine Millionen Euro hat und 99 Personen haben zusammen 1 Million Euro. Statistik ist also nicht immer die einzig vernünftige Betrachtungsweise.
Oder mal direkt am Beispiel von Wahlen wie in Sachsen-Anhalt. Ich hatte in der vergangenen Woche mit einigen Menschen sehr viel Kontakt. Mit dem wunderbaren Model Kim Hnizdo, mit dem Ex-BILD-Chef Kai Diekmann, mit Starpianist Igor Levit und mit dem Topfotografen Daniel Biskup. Zusammen mit mir sind das fünf Personen. Ich kann allerdings ausschließen, dass einer von uns jemals AfD wählen würde. Erweitere ich den Kreis auf 20 weitere Personen, mit denen ich viel Austausch habe, sehe ich: Auch von denen hat und wird niemand jemals AfD wählen. Von den 25 Personen müssten aber laut Statistik 5 Personen AfD-Wähler sein.
Wir alle leben in Bubbles
Da zeigt sich das gesamte Ausmaß des Dilemmas. Denn das heißt: irgendwo gibt es eine Gruppe von fünf engen Freunden, die alle AfD wählen. Anders kann so ein Wahlergebnis nicht zustande kommen. Wir sehen also: Wir alle leben in Bubbles. Wir bekommen gar nicht mit, was in unserem eigenen Land vorgeht. Wir bekräftigen mit ironischen Gag-Weisheiten auf Twitter, in langatmigen Gutmensch-Leitartikeln in unseren Zeitungen oder mit Schulterklopfen beim Italiener, wenn wir Trüffelnudeln aus dem Parmesanleib für 48 Euro genießen, unsere Weltanschauung sei die einzig richtige.
Die Dekonstruktion unserer Gesellschaft findet aber nicht an den schneeweißen Tischdecken der In-Restaurants in Berlin Mitte statt. Natürlich ist ein Abend im Borchardt inspirierender als ein Abend vor einem Späti in Marzahn. Aber dem Entgleiten des Anstands werden wir dort nicht Einhalt gebieten. Höchstens unserem Hunger nach dem wohligen Gefühl einer unlimitierten Kreditkarte und der Gewissheit, auch in den kommenden Monaten die Miete zahlen zu können.
Wenn wir also nicht dringend damit anfangen, diesen Leuten zuzuhören, wird uns auch unser Hang zum Savoir-Vivre nicht retten. Dann werden sie kommen, in die Borchardts, die Grill Royals, die Bocca di Baccos und die Gendarmeries dieser Welt. Aber dann wird es zu spät sein. Denn dann sitzen an den Nebentischen plötzlich Menschen, die tatsächlich glauben, jemand wie Bernd Höcke oder Beatrix von Storch könnten in Regierungsverantwortung in unserem Land irgendwas verbessern.
Mit "Zuhören" meine ich übrigens "Zuhören". Also sprechen. Was ich nicht meine, ist eine Clickbait-basierte nach dem Mund-Panikmache bestimmter Medien, die Profit schlagen wollen aus dem Drang der Enttäuschten und Ängstlichen, für alles und jeden einen einfachen Schuldigen präsentiert zu bekommen, den sie beschimpfen und verfluchen können, um sich selbst etwas besser zu fühlen.
Wieso gilt "Die Partei" als Spaß-Partei - die FDP aber nicht?
Und so werfen wir ihnen dauernd ein paar Brocken zur Aufregung hin. Buzzwords, an denen sie sich in den Kommentarspalten der Social Media Portale um Kopf und Kragen anfeinden können. Ist die Inkompetenz von Andi Scheuer größer als die von Armin Laschet? Wieso gilt "Die Partei" als Spaß-Partei, die FDP aber nicht? Wie kann Olaf Scholz eine Ikone des Aufbruchs sein? Warum wird Robert Habeck öfter verträumt in Schwarz-weiß fotografiert als Toni Garrn? Warum darf Jens Spahn weitermachen, obwohl er inzwischen mehr Eigentumswohnungen hat als politische Erfolge?
Damit werden die Massen abgelenkt von den eigentlichen Fragen. Fragen wie: Wie können wir den Klimawandel tatsächlich aufhalten? Wie können wir Altersarmut verhindern? Wie können wir eine nachhaltige Welt schaffen? Wie können wir dafür sorgen, dass Dividenden nicht wichtiger sind als die Tausenden von Arbeiter, die sie erwirtschaften? Wie können wir die Menschen in Gesundheits- und Pflegeberufen ernsthaft dafür honorieren, wie sie jeden Tag die Welt ein wenig besser machen?
Fragen, die auch an den Tischen in den Restaurants erörtert werden, in denen eine Flasche Rotwein mehr kostet als der durchschnittliche Vier-Personen-Haushalt im Monat für Lebensmittel zur Verfügung hat. Nur eben nicht mit den Betroffenen. Die wären aber auch gerne dabei. Nicht, um auch mal teuren Wein zu trinken, als wäre es Cola Light. Sie möchten mal gehört werden. Merken, dass man sie nicht vergessen hat oder in den viel zitierten Elfenbeintürmen der Gesellschaftsphilosophischen Lager lieber theoretisch bleibt, weil eine Krankenpflegerin mit 2.200 Euro brutto, Doppelschichten und Wochenendarbeit zwar irgendwie zu wenig verdient, klar. Aber deswegen auf eins der drei Ferienhäuser verzichten, das möchte man natürlich auch nicht. Warum auch? Sylt ist schön. Die Toskana auch. Und auf St. Tropez verzichtet wirklich niemand freiwillig.
Enttäuscht, ignoriert, frustriert in die Wahllokale
Also laufen sie in die Wahllokale. Enttäuscht, ignoriert, vielleicht sogar frustriert. Sie können die intellektuelle Pseudo-Bourgeoise nicht damit treffen, dass sie ihr SPIEGEL Abo kündigen. Sie haben nie eins gehabt. Es bekommt auch niemand mit, wie sie traurig ihr altes Willy Brandt Plakat von 1969 von der Wand nehmen. Damit Sie auch morgen in Frieden leben können. Von wegen.
Das einzige Werkzeug, das sie haben, um es "denen da oben" mal zu zeigen, ist die Wahlkabine. Hier ist jeder Mensch gleich. Egal, ob Du im Tesla zum Wahllokal fährst oder mit dem Bus. Egal, ob Du deine Stimme mit einem 45.000-Euro Patek Philippe Chronometer am Arm abgibst oder mit einer Casio Digitaluhr. Jede Stimme zählt so viel wie die andere. Also macht man das Kreuz halt bei der AfD. Irgendwann werden sie schon merken, dass man mit uns nicht alles machen kann, denken sie.
Und so fährt die AfD 20% ein und ist sogar noch leicht enttäuscht, während die einstmals etablierten Parteien sich verwundert die Augen reiben. Wie konnte das passieren? Wir haben ein Fünftel der Menschen schon verloren! Aber das stimmt nicht. Man hat diese Menschen nicht verloren. Man hat sich vor ihnen abgeschottet mit Burggräben aus elitärer Überheblichkeit. Mit Grenzzäunen aus Fair Trade Kaffeebohnen zu 229 Euro je Kilo. Wenn wir diese Überheblichkeit nicht ablegen, werden die 20% in Sachsen-Anhalt erst der Anfang gewesen sein. Und dann wird es ungemütlich für alle. Überall. Selbst im Grill Royal.
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