Der aktuelle Frankfurter "Tatort: Kontrollverlust" überzeugt mit einer verstörenden Mutter-Sohn-Beziehung.
Annette Baer ist eine sehr, sehr gute Mutter. Lucas war ihr Wunschkind, sie hat ihn mit Hilfe eines Samenspenders ganz allein bekommen und ganz allein erzogen. Und nur weil er inzwischen erwachsen ist, heißt das noch lange nicht, dass die Fürsorge aufhört. Da kann man schon manchmal unangemeldet in sein Zimmer kommen. Schließlich ist er ein sehr sensibler junger Mann und will Künstler werden wie die Mama.
Zurzeit besucht Lucas einen Mappenkurs; mit den Arbeiten in seiner Mappe will er sich an einer Kunstschule bewerben. Wenn Lucas auf die Toilette geht, wirft Annette Baer kurz einen Blick auf seine Zeichnungen; als Bildhauerin ist sie ja Fachfrau. Doch was sie sieht, gefällt ihr gar nicht: Monster und Folterszenen! Das liegt bestimmt an dieser komischen Freundin ihres Sohnes, einer feministischen Gamerin, mit der will er ein Spiel designen.
Aber jetzt ist Cara (Viktoria Schreiber) tot. Die 24-Jährige wurde mit tiefen Stichwunden in Bauch und Brust in ihrer Wohnung gefunden. Und zuhause trifft Annette Baer (Jeanette Hain) ihren Lucas (Béla Gábor Lenz) zitternd und mit blutverschmierten Händen im Badezimmer an. Jetzt hat sie richtig was zu tun.
Sohn unter Mordverdacht
Wenn der Sohn unter Mordverdacht geraten könnte, gibt es für eine Mutter ja so einiges zu organisieren. Das blutige T-Shirt wegschmeißen. Ein Glas Milch und Vollkornbrot mit Wurst bereitstellen – der Junge soll bei Kräften bleiben und darf jetzt nicht die Nerven verlieren. Ach ja, und Lucas soll doch bei der toten Freundin anrufen. Einfach mal aufs Handy sprechen, das zeige der Polizei, dass er am Vortag noch bei ihr war, und keine Ahnung habe von ihrem Tod.
Aber Kommissar
Komisches Benehmen ist in diesem "Tatort" allerdings relativ. Man muss kein Psychologe sein, um zu merken, dass das, was Annette und Lucas Baer verbindet, keine gesunde Beziehung ist. "Kontrollverlust" konzentriert sich ganz auf sie. Es ist ihre Welt, die das Drehbuch von Elke Hauck und Sven S. Poser erschafft und in die Haucks Regie das Publikum tief hineinzieht.
Der Film spielt vor allem in der Wohnung des seltsamen Paares – eine Wohnung wie eine Höhle, zu der Kommissarin Janneke und Kollege Brix nicht denselben Zugang haben wie das Fernsehpublikum, entsprechend weniger Einblick in die Beziehung bekommen und munter in der Gegend herum ermitteln – bis die Spurensuche auch sie immer tiefer in die Welt von Annette und Lucas Baer führt.
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Die besitzergreifende Mutter
Es ist eine Welt, die Annette Baer zu kontrollieren scheint. Die Bildhauerin ist eine faszinierende Figur, Künstlerin und Kontrollfreak zugleich, die ihren Sohn fast so besitzergreifend behandelt wie die Homunkulus-Armee, die in ihrem Atelier steht.
In der alchimistischen Theorie des Mittelalters sind Homunkuli künstliche Mini-Menschen, oft dämonische Helferlein ihres Erschaffers. In Annette Baers Atelier sind es Gipsfiguren mit großen Köpfen und keinem Inhalt, keinem Gesicht. "Kontrollverlust" erzählt auch von Lucas' Bemühen zu beweisen, wie viel in ihm steckt. Bei aller Mördersuche ist die Beziehung zwischen Mutter und Sohn das eigentlich Spannende an diesem verstörenden Psychodrama.
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