- Als erste Frau steht Yasmin Fahimi an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB).
- Im Interview mit unserer Redaktion spricht Fahimi über das Krisenmanagement der Bundesregierung, den Industriestandort Deutschland und die Gefahren des Fachkräftemangels.
- Die DGB-Chefin sagt: "Wenn wir aus der Mitte der Gesellschaft Solidarität erwarten, müssen wir auch die Pflicht der Supervermögenden in diesem Land thematisieren."
Frau Fahimi, werden Sie in den nächsten Monaten auf eine Demonstration gehen?
Yasmin Fahimi: Das wird davon abhängen, wie sich die nächsten Wochen und Monate entwickeln. Unser erstes Ziel ist, dass wir für die Beschäftigten etwas erreichen: mit ordentlichen Tarifverträgen und in der Politik. Deswegen bemühen wir uns gerade hier in Berlin, unsere Forderungen nach zusätzlichen Entlastungen umzusetzen – und das durchaus mit Erfolg.
Was war denn Ihr größter Erfolg in den vergangenen Wochen und Monaten?
Die Strom- und die Gaspreisbremse haben wir politisch durchgesetzt. Zumindest als Grundmodell, da sind noch einige Details zu klären. Aber bis hierher ist das schon ein großer Erfolg. Ich erinnere mich, dass wir im Juni mit diesem Vorschlag noch auf viel Skepsis gestoßen sind – auch bei der Bundesregierung. Glücklicherweise hat es jetzt ein Umdenken gegeben. Auch der Vorschlag der Expertenkommission hat uns den Rücken gestärkt.
Die Expertenkommission zur Gaspreisbremse schlägt vor, dass der Staat im Dezember die Gas-Abschlagszahlung für alle Bürgerinnen und Bürger übernimmt – also auch für Gutverdienende. Ist das gerecht?
Wenn die Regierung die Vorschläge umsetzt, würden 24 Millionen Haushalte noch in diesem Jahr entlastet. Das ist wichtiger als ein oder zwei Prozent der Haushalte herauszufiltern, die es vielleicht nicht brauchen. Der Vorschlag besagt im Übrigen auch, dass die Übernahme der Abschlagsrechnung als geldwerter Vorteil versteuert werden muss. Das beträfe voraussichtlich Menschen mit mehr als 75.000 Euro Jahresgehalt. Richtig ist auch, dass durch die Übernahme der tatsächlichen Abschlagszahlung eine quasi individuelle Einmalzahlung erfolgt. Denn es kann sein, dass jemand mit einem geringeren Einkommen einen höheren Energiebedarf hat als jemand mit hohem Einkommen – einfach, weil Geringverdienende zum Teil in schlecht sanierten Wohnungen leben. Deswegen ist die Übernahme der Abschlagszahlung besser als eine Energiepauschale für alle in gleicher Höhe.
Welches Zeugnis stellen Sie dem bisherigen Krisenmanagement der Bundesregierung aus?
Es gibt Licht und Schatten. Ich finde es bemerkenswert, wie erfolgreich die Bundesregierung bei der Beschaffung von alternativen Energiequellen ist. Sie hat auch viele richtige Signale bei den Entlastungspaketen gesetzt.
Und was kritisieren Sie?
Gerade beim Wärmemarkt hätte ich mir eine sehr viel schnellere, konstruktive Bearbeitung unserer Vorschläge im Sommer gewünscht. Im ersten Entlastungspaket hatte außerdem tatsächlich das Prinzip Gießkanne Vorrang, wenn man zum Beispiel an den Tankrabatt denkt. Das ist jetzt besser geworden. Wir sehen allerdings Nachholbedarf bei den Energiepreisen: Ich glaube nicht, dass die Übernahme einer Abschlagszahlung für die Heizperiode reicht. Wir würden uns wünschen, dass die Bundesregierung eine zweite Abschlagszahlung im Januar oder Februar übernimmt.
Fahimi: "Wenn wir die schlimmsten Krisenfolgen abgeschüttelt haben, müssen wir gut in den Startlöchern stehen"
Der DGB steht einerseits hinter den Sanktionen gegen Russland, setzt sich andererseits kritisch mit der Politik der Bundesregierung auseinander. Wie schwierig ist es, da eine Balance zu finden?
Wir stehen hinter den Sanktionen der Bundesregierung – wie im Übrigen die gesamte deutsche Wirtschaft. Dieser Krieg ist eine Zäsur. Die gesamte Friedensordnung in Europa steht auf dem Spiel. Wir haben das größte Interesse daran, dass unsere Friedensordnung wiederhergestellt wird und Putin sein Ziel nicht erreicht. Allerdings sehe ich es kritisch, wenn jetzt gesagt wird, dass wir alle ärmer werden und Wohlstandsverluste erleben.
Warum?
Weil es auch in diesen Krisenzeiten um eine gerechte Verteilung der Lasten geht. Wenn wir aus der Mitte der Gesellschaft Solidarität erwarten, müssen wir auch die Pflicht der Supervermögenden in diesem Land thematisieren. Wir treten klar für die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer, für eine Reform der Erbschaftsteuer und für ein faires System bei der Einkommensteuer ein: mit einer Entlastung der Mitte und einer zusätzlichen Stufe beim Spitzensteuersatz. Von der Bundesregierung ist nur das Mantra der Schuldenbremse zu hören. Aus dieser Krise können wir uns aber nicht heraussparen. Wenn wir die schlimmsten Krisenfolgen abgeschüttelt haben, müssen wir gut in den Startlöchern stehen. Deswegen heißt es: in der Breite entlasten und für Fortschritt investieren.
Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil warnt vor Deindustrialisierung und Arbeitsplatzverlust. Zurecht?
Es kommt darauf an, was die Bundesregierung in den nächsten Wochen und Monaten noch entscheidet. Die Gefahr droht – nicht nur mit Blick auf die Energiepreise, sondern auch auf den Fachkräftemangel. Entscheidend ist, ob uns der Einstieg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien gelingt und wir es schaffen, die Abhängigkeit von ausländischen Energielieferanten herunterzufahren. Das ist nicht nur eine technische Frage. Wir brauchen auch die Menschen, die diesen Umbau mit ihrer Hände Arbeit leisten. Im Moment erleben wir aber leider einen Subventionskrieg – auch mit den USA.
Was meinen Sie damit?
Die USA ziehen mit ihrem Inflationsbekämpfungsgesetz gerade sehr viel Kapital zu sich. Deutschland läuft Gefahr, dass unsere hocheffizienten Standorte nicht ausreichend durch Investitionen für die Zukunft abgesichert sind. Wir brauchen bessere Energienetze, digitale Netze, Verkehrswege – das alles ist immer ein wichtiger Standortvorteil gewesen. Wenn wir das verspielen, droht eine dramatische Deindustrialisierung. Es geht gerade nicht nur um Krisenmanagement, sondern auch um das Versprechen der Koalition nach einem echten Aufbruch in Richtung Fortschritt.
"Wir sind doch schon längst Einwanderungsland"
Der Bundesregierung zufolge könnten bis 2026 rund 240.000 Fachkräfte fehlen. Welche Folgen hat das für die Beschäftigten jetzt schon? Geht es ihnen eigentlich ganz gut damit, weil sie gute Verhandlungspositionen haben?
Natürlich nicht. Wir sehen doch schon lange, wie der Fachkräftemangel unser Leben beeinflusst – sei es in Schulen, Krankenhäusern und Altenheimen oder im vergangenen Sommer an den Flughäfen. Ein eklatanter Fachkräftemangel wie derzeit in den Klimaberufen gefährdet aber auch unseren Wohlstand und unsere Zukunft. Wenn nicht genügend Arbeitskräfte vorhanden sind, um die Arbeit zu erledigen, geht nicht einfach die Auftragslage zurück. Dann könnten ganze Standorte verschwinden.
Was müsste passieren?
Wir brauchen eine intensive Aus- und Weiterbildungsstrategie. Für Menschen, die noch gar keine Berufsausbildung haben. Aber insbesondere auch für Frauen, die sich nicht in der Lage sehen, Vollzeit arbeiten zu gehen, weil die Rahmenbedingungen einfach nicht stimmen. Wir werden auch nicht darum herumkommen, viel effizienter ausländische Arbeitskräfte anzuwerben. Dazu braucht Deutschland ein liberales Fachkräfte-Einwanderungsgesetz.
Ist die deutsche Gesellschaft gedanklich reif dafür, ein Einwanderungsland zu werden?
Wir sind doch schon längst Einwanderungsland! Die Politik muss klarstellen, dass es hier nicht um Sozialtouristen geht, wie es manche ja in ekelhafter Art und Weise formuliert haben. Sondern es geht einerseits um Menschen in Not, andererseits um Menschen, die wir brauchen. Es reicht nicht, sie willkommen zu heißen. Das hat immer etwas von einer Gastgebermentalität. Wir müssen dankbar sein, wenn Menschen bereit sind, ihre Arbeitskraft für unseren Wohlstand einzusetzen. Das ist nicht immer trivial, das weiß ich auch. Natürlich gibt es Integrationsaufgaben, die noch besser gelingen müssen als in der Vergangenheit.
Und wie?
Die Menschen, die nach Deutschland kommen, dürfen nicht ein, zwei, drei Jahre lang in Warteschleifen geschickt werden. Sie müssen möglichst schnell in Ausbildung und Arbeit kommen und eine längere Aufenthaltsperspektive erhalten. Sie müssen die Möglichkeit haben, hier ein Erwerbsleben aufzubauen, statt nur von Sozialleistungen zu leben. Fachkräfte aus dem Ausland dürfen auch nicht als Billiglöhner missbraucht werden.
Die Mitgliederzahl in den DGB-Gewerkschaften ist in den vergangenen Jahren beständig gesunken – auf inzwischen unter sechs Millionen Menschen. Sind Gewerkschaften ein Auslaufmodell?
Nein. Wir haben zugegebenermaßen schwierige Zeiten hinter uns. Aufgrund der Pandemie war es uns nicht möglich, so wie üblich mit den Beschäftigten in Kontakt zu treten. Auch wir kämpfen mit dem demografischen Faktor. Hinzu kommt: Wir sind immer nur so stark, wie die Betriebe das zulassen. Je schwächer man uns durch mangelnde Mitbestimmung und Tarifbindung macht, desto schwieriger fällt es uns auch, die Menschen in einer Solidargemeinschaft davon zu überzeugen, dass wir ihnen den Rücken stärken. Wir brauchen daher einen Nationalen Aktionsplan für mehr Tarifbindung, und wir gehen inzwischen auch im Alltagsleben der Menschen stärker auf sie zu und werben für eine Mitgliedschaft – nicht ohne Erfolg.
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