- Bettina Stark-Watzinger ist Bundesministerin für Bildung und Forschung.
- Im Interview mit unserer Redaktion spricht sie über den Fachkräftemangel, die Auswirkungen der Energiekrise auf Klassenzimmer und Hörsäle – und das Masketragen im Unterricht.
- Die FDP-Politikerin sagt: "Wir müssen mehr Rücksicht auf junge Menschen nehmen – und ihnen nicht nur Rücksicht abverlangen wie in den letzten zwei Jahren."
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Bettina Stark-Watzinger: Nein. Erstens hat die Bundesregierung alles dafür getan, die Gasversorgung in diesem Winter zu sichern. Zweitens haben wir uns im Kabinett und mit der Bundesnetzagentur darauf verständigt, dass Bildungseinrichtungen zu den geschützten Kunden gehören. Sie werden vorrangig versorgt. Das ist mir sehr wichtig, weil schon die Corona-Pandemie unseren Kindern viel abverlangt hat: psychisch, sozial und körperlich. Junge Menschen brauchen jetzt so viel Normalität wie möglich.
Gilt das auch für die Universitäten und Hochschulen?
Das gilt für alle Bildungseinrichtungen. Sie sollen offen bleiben. Wir müssen mehr Rücksicht auf junge Menschen nehmen – und ihnen nicht nur Rücksicht abverlangen wie in den letzten zwei Jahren. Gerade der persönliche Austausch und das Diskutieren über das reine Lernen hinaus sind extrem wichtig. Das macht das Studium aus und natürlich auch das Campusleben. Deswegen brauchen wir im Wintersemester Präsenzlehre.
Studierenden haben während der Pandemie vor allem Treffpunkte und sozialer Austausch gefehlt. Wird es das alles wieder geben?
Die Hochschulen werden sich nach Corona verändern. Massenlehrveranstaltungen mit 600 Studierenden wird es eher weniger geben. Die kann man auch streamen und sich individuell anschauen. Aber die Kleingruppenarbeit und das Debattieren bleiben wichtig. Es wird wahrscheinlich ein neues Miteinander an Hochschulen geben. Das muss sich entwickeln und dafür müssen Räume zur Verfügung stehen.
Die Bundesregierung hat Studierenden eine Einmalzahlung von 200 Euro versprochen. Das ist Teil des dritten Entlastungspakets. Allerdings ist noch unklar, wann und wie sie die Zahlung erhalten.
Wir haben junge Menschen – Studierende, Auszubildende – von Anfang an in den Entlastungspaketen mitgedacht. Für die Einmalzahlung brauchen wir jetzt eine gesetzliche Grundlage. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, dass der Gesetzentwurf im Oktober ins Kabinett geht. Dazu sind wir im Austausch mit den Ländern und Hochschulen. Nur die Hochschulen wissen, wer bei ihnen eingeschrieben ist. Wir wollen das Verfahren möglichst einfach und schlank gestalten.
Bettina Stark-Watzinger: "Masken sind das letzte Mittel"
Welche Rolle wird die Maske an Schulen und Hochschulen noch spielen?
Die Evaluation der Corona-Maßnahmen durch die Sachverständigenkommission hat deutlich gemacht: Schulschließungen hatten immense Folgen für die Kinder. Es darf keine flächendeckenden mehr geben. Masken sind das letzte Mittel, wenn der Präsenzunterricht gefährdet wäre. Das ist ein hartes Kriterium. Wir können jungen Menschen sonst nicht erklären, dass wir normal einkaufen gehen und im Restaurant sitzen, während sie im Unterricht eine Maske tragen müssen.
In Deutschland könnten bis zum Jahr 2026 rund 240.000 Fachkräfte fehlen. Was unternehmen Sie dagegen?
Die Bundesregierung erarbeitet gerade eine Fachkräftestrategie. Wir müssen erstens die Menschen in unserem Land bestmöglich ausbilden und ihnen die Vielfalt der Berufswege nahebringen. Das allein wird aber nicht ausreichen. Deswegen brauchen wir zweitens auch deutlich mehr Zuwanderung von Fachkräften.
Für die Fachkräftegewinnung spielt die berufliche Bildung eine zentrale Rolle. Schon lange betont die Politik, wie wertvoll das duale System mit Ausbildung und Berufsschulen ist. Trotzdem arbeiten immer mehr junge Menschen auf Abitur und Studium hin. Wie wollen Sie das ändern?
Schülerinnen und Schüler müssen die verschiedenen Ausbildungswege kennenlernen – auch die Alternativen zum klassischen Studium. Deswegen muss Berufsorientierung regelmäßig in den Schulen stattfinden. Auch müssen die Gymnasien stärker einbezogen werden. Sie bilden nicht nur für die Hochschulen aus. Gleichzeitig müssen berufliche Schulen modernisiert werden. Wir können die Fachkräfte von morgen nicht in Lernorte von gestern schicken. Mit einer Exzellenzinitiative will ich der beruflichen Bildung neuen Schub geben. Wir brauchen beides, akademisch und berufliche Bildung, und beides ist gleichwertig. Außerdem muss Durchlässigkeit da sein. Wir bleiben nicht mehr zwangsläufig in einem Job, bis wir in Rente gehen. Was mir besonders am Herzen liegt: Immer noch verlassen zu viele Schülerinnen und Schüler die Schule ohne Abschluss. Ihnen müssen wir uns stärker zuwenden und sie qualifizieren.
"Wir brauchen mehr bundesweite Standards"
Auch die Digitalisierung der Schulen ist ein Dauerthema. Wie zufrieden sind Sie mit dem aktuellen Stand?
In den vergangenen Jahren wurde nicht genug Tempo gemacht. Unsere Schulen sind größtenteils noch eine analoge Welt, während die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler längst digital ist. Die allermeisten Arbeitsplätze werden in Zukunft mit Digitalisierung zu tun haben. Es muss sich nicht jeder mit Künstlicher Intelligenz beschäftigen – aber jeder wird mehr oder weniger digital arbeiten. Deshalb gibt es den Digitalpakt, um die Ausstattung der Schulen mit digitaler Infrastruktur und digitalen Geräten zu verbessern.
Diesen Pakt mit fünf Milliarden Euro hat die alte Bundesregierung 2019 aufgelegt. Das Geld fließt allerdings nur langsam ab.
Deswegen ist es unser Ziel, den Digitalpakt weiter zu beschleunigen.
Und wie?
Gerade auf die Kommunen kommt es an, denn sie müssen als Schulträger die Gelder ausgeben. Daher haben wir sie zum ersten Mal mit an den Tisch geholt. Der Bund berät und unterstützt zudem noch stärker, damit das Geld schneller in den Schulen ankommt. Ich bin für möglichst viel Verantwortung vor Ort, für selbstständige Schulen. Bei der Digitalisierung braucht es allerdings mehr Unterstützung des Bundes. Der jetzige Digitalpakt läuft noch bis 2024. Wir lernen jetzt daraus, um einen Digitalpakt 2.0 besser auszugestalten.
Wie sehr ärgert es Sie, dass die Länder ihre Aufgaben in der Schulpolitik vehement verteidigen – und der Bund nicht viel mehr machen kann, als Geld zu geben?
Die Länder haben die wunderbare Aufgabe, für Bildung zuständig zu sein. Es ist gar nicht mein Ziel, dass in der Bildungspolitik alles zentral geregelt wird. Mir ist eine klare Aufgabenteilung wichtig. Den Familien ist es gleich, wer verantwortlich ist, sie wollen ein gutes Bildungssystem. Das ist ein Auftrag an uns. Wir brauchen etwa mehr bundesweite Standards. Wenn Schülerinnen und Schüler mit ihren Familien in ein anderes Bundesland umziehen, darf das kein Problem sein.
"Die Schuldenbremse auszusetzen, wäre der falsche Weg"
Für das Bundesministerium für Bildung und Forschung sind im nächsten Bundeshaushalt 20,6 Milliarden Euro vorgesehen. Befürchten Sie, dass es weniger werden, weil der Staat in der aktuellen Krise für viele andere Zwecke Geld ausgeben muss?
Nein. Wir müssen natürlich die Herausforderungen der Gegenwart bewältigen. Die Sorgen und Nöte der Menschen angesichts der steigenden Gas- und Strompreise sind groß. Das ist für einige nicht zu stemmen. Deswegen müssen wir sie entlasten und auch dafür sorgen, dass unsere industrielle Basis erhalten bleibt. Diese drängenden Fragen der Gegenwart dürfen aber nicht zu einer Vernachlässigung der Zukunft führen. Jeder Euro für Bildung und Forschung heißt mehr Chancen für jeden Einzelnen und mehr Chancen für die gesamte Gesellschaft.
Die Bundesregierung muss eine schwere Krise bewältigen und will gleichzeitig an Zukunftsinvestitionen festhalten. Dann müsste die FDP doch bereit sein, die Schuldenbremse 2023 noch einmal auszusetzen, um eine höhere Schuldenaufnahme zu ermöglichen.
Das hört sich immer so einfach an, aber die Schuldenbremse hat Verfassungsrang. Wenn wir sie jetzt aufheben, würde nicht investiert, sondern konsumiert. Das würde die hohe Inflation noch weiter anheizen, weil die Inflation in Deutschland zurzeit angebotsgetrieben ist. Um die Härten zu nehmen, haben wir bereits drei Entlastungspakete geschnürt. Die Schuldenbremse auszusetzen, wäre der falsche Weg.
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