Ein europaweites Steuerkarussell schädigt die EU-Staaten jedes Jahr um 50 Milliarden Euro – es ist der zweite europaweite Steuerskandal innerhalb von zwei Jahren. Die EU hat das Problem erkannt – aber nicht gebannt. Schließlich fehlt es am gemeinsamen Willen, die Steuermafia auszutrocknen.

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Es ist wohl eines der größten Wirtschaftsverbrechen der vergangenen Jahre, sicher jedoch der größte laufende Steuerbetrug in Europa. Organisierte Verbrecherbanden nutzen sogenannte Umsatzsteuerkarusselle aus, die in der EU Steuerschäden in Höhe von 50 Milliarden Euro verursachen – pro Jahr.

Ein Konsortium von 63 Journalisten aus 30 Ländern unter der Leitung des Recherche-Netzwerks "Correctiv" hat nun erstmals ans Licht gebracht, in welchem Umfang Betrüger die europäischen Behörden austricksen, wer die Protagonisten hinter dem Betrug sind – und wieso sich die Steuermafia für Erneuerbare Energien interessiert.

"Grand Theft Europe" haben die Journalisten aus 35 Medienhäusern ihre Recherchen genannt und einen europaweiten Betrug mittels Firmengeflechten enttarnt. Er funktioniert so: Staaten erheben auf Waren und Dienstleistungen Mehrwertsteuern. In Deutschland sind das 19 Prozent, die Händler ihren Käufern üblicherweise in Rechnung stellen. Was die Händler innerhalb einer Lieferkette an ihre Lieferanten zahlen, erstattet ihnen das Finanzamt als Vorsteuer zurück – schließlich soll die Umsatzsteuer nur für das Endprodukt gelten.

Mit der Einführung des europäischen Mehrwertsteuersystems im Jahr 1993 drehte das Karussell richtig rund. Können Waren seitdem frei durch die EU zirkulieren, erheben heute noch fast alle EU-Staaten unterschiedliche Steuersätze.

Der Handel über Ländergrenzen hinweg ist deshalb von der Mehrwertsteuer befreit. Im Fall von "Grand Theft Europe" nutzen das die Betrüger aus, indem der erste Einkäufer einer kriminellen Vereinigung die in Deutschland bezahlte Umsatzsteuer nicht an das Finanzamt abführt und sich auflöst, wenn er von den Behörden entdeckt wird. Fachleute nennen ihn deshalb auch "Missing Trader".

Der letzte Verkäufer in der Lieferkette – der "Distributor" – verkauft die Ware anschließend zurück ins Ausland und lässt sich die Mehrwertsteuer erstatten. Möglich ist das, weil die Finanzämter bei Millionen von Transaktionen die geforderten Erstattungen ungeprüft ausbezahlen. "Correctiv" beziffert den Schaden, der allein in Deutschland jährlich entsteht, auf 14 Milliarden Euro.

Je teurer die Ware, desto höher der Gewinn

Theoretisch funktioniert der Betrug mit jeder Ware oder Dienstleistung, auf die Mehrwertsteuer anfällt. Je teurer das Produkt, desto höher der Gewinn. Weil immer dann Gewinne entstehen, wenn Waren über Ländergrenzen hinweg zwischen Strohfirmen zirkulieren, steigt der Gewinn zudem, je simpler die Logistik ist. Beliebt sind deshalb Handys, Spielkonsolen, Computerchips, Edelmetalle, Strom und Emissionsgüter.

Besonders CO2-Zertifikate haben es den Betrügern angetan. Sie sind virtuell handelbar, leicht verkäuflich, blitzschnell verfügbar – und Transportkosten entstehen erst gar nicht. Das Prinzip ist dasselbe wie bei den physischen Waren. Auch hier importieren Betrüger CO2-Zertifikate steuerfrei aus einem anderen EU-Land nach Deutschland, schleusen sie durch Strohfirmen und führen sie wieder ins Ausland aus – nachdem der Fiskus ihnen 19 Prozent Mehrwertsteuer erstattet hat, die nie abgeführt wurden.

Im Mittelpunkt dieses Skandals stehen Mitarbeiter der Deutschen Bank, die beim Verkauf der Zertifikate ins EU-Ausland geholfen haben und hohe Boni kassiert haben sollen. 220 Millionen Euro hat die Deutsche Bank dafür bereits an den Staat zurückgezahlt, ein Mitarbeiter kam drei Jahre in Haft.

Dass ausgerechnet die Deutsche Bank in den Betrug verwickelt ist, ist pikant – schließlich ist "Grand Theft Europe" nicht der erste Fall, bei dem deutsche Bänker den Steuerzahler um Milliardensummen prellten. Der Umsatzsteuerbetrug erinnert stark an den sogenannten "Cum-Ex"-Betrug, der im vergangenen Jahr aufgedeckt wurde. Mindestens zehn Jahre lang hatten sich Betrüger eine auf Dividenden abgeführte Kapitalertragssteuer mehrfach erstatten lassen und so in ganz Europa einen Schaden von über 60 Milliarden Euro verursacht.

Die Unterschiede zu "Grand Theft Europe": Die Betrüger nutzten legale Steuerschlupflöcher und Lücken in der Gesetzgebung aus. Umsatzsteuerbetrug ist jedoch illegal. Zudem war "Cum-Ex" nur mit Heerscharen von Anwälten und Steuerexperten möglich. Für den Umsatzsteuerbetrug reichen ein guter Geschäftssinn und viel kriminelle Energie aus.

Hintermänner bleiben oftmals unentdeckt

Das traf auch auf Amir Bahar zu, dessen Geschichte "Correctiv" auf Basis von Ermittlungsunterlagen rekonstruiert hat. Mithilfe von Umsatzsteuerbetrugs brachte es der Teenager innerhalb weniger Jahre vom Handyverkäufer zum Multimillionär.

Er hatte mit Mobiltelefonen, Spielekonsolen, Kupferkathoden und CO2-Zertifikaten gehandelt und einen Steuerschaden von rund 110 Millionen Euro verursacht, indem er die Waren über Landesgrenzen hinweg im Kreis handelte, ohne Umsatzsteuer abzuführen. Ende 2007 gerät er ins Visier der Ermittler, Fahnder verfolgen ihn durch ganz Europa.

2014 wird Bahar festgenommen und zwei Jahre später zu fünf Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Seine Aussagen haben entschieden dazu beigetragen, das Verfahren gegen die Deutsche Bank voranzutreiben.

Doch oftmals bleiben die Hintermänner des Betrugs unentdeckt. Schließlich laufen viele Geschäfte über Briefkasten- und Pufferfirmen ab - und wenn Strohmänner gefasst werden, sind sie höchstens für einen Bruchteil des Betrugs verantwortlich. Der Großteil der illegalen Gewinne verschwindet über Offshore-Firmen auf sicheren Konten.

In die Kritik geraten nun auch diejenigen, die vom Steuerbetrug betroffen sind – nämlich die EU-Staaten. Laut "Grand Theft Europe" sind sie spätestens seit 2009 über den Betrug informiert. Doch zahlreiche Länder lehnen ein Betrugs-Frühwarnsystem, weil sie dafür Kompetenzen an die EU abgeben müssten.

Betroffen ist von diesem Defizit insbesondere Deutschland, wo Umsatzsteuern sowie die Verfolgung von Steuerhinterziehung Ländersache sind. Dass regionale Behörden schlecht vernetzt sind und der Informationsaustausch hakt, nutzen Betrüger rigoros aus. Aus Sorge, das Steuergeheimnis zu vernetzen, agiert Deutschland zudem beim europäischen Datenaustausch reserviert.

Beenden ließe sich der Steuerbetrug auch, indem die sich die Länder auf ein sogenanntes "Endgültiges Steuersystem" einigen, wie es die EU-Kommission 2018 angeregt hat. Hierbei gäbe es keine unterschiedlichen Mehrwertsteuern mehr, die Mitgliedsstaaten würden die Steuer füreinander einsammeln und sich gegenseitig auszahlen. Doch das System scheitert bislang an mangelndem Vertrauen untereinander. Und auch bei den Wählern ist eine EU als föderaler Staat mit einheitlicher Steuergesetzgebung eine Vision, die keinesfalls mehrheitsfähig wäre.

Verwendete Quellen:

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