• An Allerheiligen gedenkt die katholische Kirche ihrer Heiligen – doch was macht Heilige eigentlich heilig?
  • Die Dominikanerin Sr. Ursula beobachtet, dass viele falsche Vorstellungen dazu kursieren.
  • Wir haben sie außerdem gefragt: Wie steht sie zu Halloween?
Ein Interview

"O Gott, hilf mir, rein zu sein, aber nicht sofort." Man glaubt es kaum, aber dieses halb fromme, aber auch leicht verwegene Zitat stammt tatsächlich von einem Heiligen, dem Hl. Augustinus - Kirchenvater, Ordenspatron und einer der einflussreichsten Menschen in der Geschichte des Christentums. Mit Betonung auf Mensch, "mit all seinen Ecken und Kanten – genau das macht ihn zum wahren Heiligen", wie die Dominikanerin Schwester Ursula Hertewich erklärt.

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Im Interview liefert die 45 Jahre alte Ordensschwester aus dem Kloster Arenberg in Koblenz einen ungewohnt spritzigen wie nachdenklich machenden Blick auf Allerheiligen (1. November) und Allerseelen (2. November) und erklärt, warum sie sich aus Halloween heraushält.

Schwester Ursula, es klingt ganz einfach: An Allerheiligen gedenkt die katholische Kirche ihrer Heiligen. Warum können viele heute nichts mehr damit anfangen?

Sr. Ursula: Bei dem Wort "Heiligkeit" denken wir sofort an ein fehlerfreies Leben und moralische Vollkommenheit. Wir verwechseln Heiligkeit mit moralischem Hochleistungssport - aber das hat mit der Heiligkeit, die wir in der Kirche verehren, gar nichts zu tun! Manche machen uns daraus ja sogar einen Vorwurf: "Was, diese Menschen mit ihren wilden Lebensgeschichten verehrt ihr noch?" Dabei ist das genau das, was Heiligkeit für mich ausmacht: dass ich mich traue, mein Menschsein voll zu entfalten.

Welche Heilige sind für diese Unvollkommenheit ein gutes Beispiel?

Franz von Assisi etwa, der ein wilder Lebemann war, bevor er Christus entdeckte. Oder Augustinus, der wirklich nichts ausgelassen hat und sogar in einer Sekte war. Er wäre heute für Boulevardblätter ein gefundenes Fressen. Irgendwann in seinem Leben erfuhr er eine Berührung von Gott und entdeckte ein neues Vorzeichen über seinem Leben. Er bekehrte sich, auf eine ganzheitliche Weise ohne Krampf und konnte immer zu seiner ganzen Geschichte stehen. Auch der seliggesprochene von Galen [Clemens August Graf von Galen, 1878-1946, deutscher Kardinal; Anm.d.Red.] muss ein anstrengender Zeitgenosse gewesen sein. Aber genau mit dieser nervigen Art hat er am Ende den Nazis die Stirn geboten und sie wahnsinnig gemacht.

"Heilige haben alle irgendwo einen Knall"

Heilige sind also Menschen mit Ecken und Kanten?

Ja, das macht sie aus. Menschen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige tun. Die haben alle irgendwo einen Knall, man würde heute sagen: Sie sind psychologisch ziemlich auffällig. Aber diese Auffälligkeit nicht zu nutzen, sich zu vergraben, sich fragen: "Was soll ich denn schon ausrichten in dieser Welt", das kann es nicht sein. Ganz im Gegenteil: Was Gott in mich gelegt hat, soll ich würdigen und fruchtbar machen.

Braucht es dafür Mut?

Man darf zumindest keine Angst haben. Das veranschaulicht das Gleichnis der anvertrauten Talente aus dem Evangelium. Der Gutsherr macht sich auf Reisen und vertraut seinen Knechten das gesamte Vermögen an: dem einen fünf Talente, dem anderen zwei, dem anderen eines. Die ersten beiden wuchern damit, aber der mit nur einem Talent hat Angst, vergräbt es und macht nichts damit, wofür er schließlich vom Gutsherrn bestraft wird. Manche schüchtert die Geschichte ein, aber für mich sagt sie aus: Ihr könnt alles mit dem machen, was euch gegeben wurde! Ihr könnt es verspielen, aber bitte nicht vergraben. Bitte keine Angst haben, es einzusetzen in dieser Welt. Und das machen die Heiligen: Sie wuchern mit ihren Talenten, auch wenn es noch so wenige sind. Sie bringen das ein, was zu ihnen gehört.

Fehlerfreiheit würde ja auch bedeuten, dass sich Gläubige gar nicht mit Heiligen identifizieren könnten. Manchmal begegnen einem aber Menschen, die solch einem Ideal nachzueifern scheinen. Die einem so "rein" vorkommen – manche würden aber vielleicht auch sagen: "frömmelnd".

Ich finde das so wahnsinnig unattraktiv. Das ist ein Ideal, was mit unserem Menschsein gar nichts zu tun hat. Solche Leute lassen mich völlig kalt. Das Gegenteil von Heiligkeit verkörpern in der Bibel die Pharisäer, die sich nie getraut haben, Fehler zu machen. Die jedes Gebot bis ins Letzte befolgen und meinen: Jetzt habe ich meinen Platz im Himmel sicher. Genau hat Jesus angeprangert: Solch eine Milchmädchenrechnung geht bei Gott nicht auf, so läuft es nicht.

Was viele nicht wissen: An Allerheiligen geht es zwar um die Heiligen - und zwar um jene, die keinen eigenen Feiertag haben. Aber es geht um noch viel mehr, oder?

Genau. Es geht darum, sich leuchtende Vorbilder vor Augen zu führen. Manchmal begegne ich Menschen, bei denen ich das Gefühl habe: Da kommt mir was ganz Heiliges entgegen und es erhebt sich automatisch meine Seele. Da werde ich weit und inspiriert. Von Vorbildern zu sprechen, ist vielleicht schwierig, weil es nicht gleich heißen muss, dass ich das auch so machen will. Eher: Sich inspirieren lassen, was menschliches Leben für Möglichkeiten in sich birgt und wozu Menschen etwa auch in der Liebe fähig sind. Das finde ich an Allerheiligen so schön, da danke ich für all diese Menschen. Weil sie mir gezeigt haben, wie groß Gott den Menschen gedacht hat.

Es klingt so, als wären das nicht immer Menschen der Kirche?

Nö. (lacht) Ganz unterschiedlich! Es gibt Menschen, da geht mir buchstäblich das Herz auf. Da kann man sich kaum entziehen, da ist etwas, das Lust auf Leben macht. Interessanterweise sind das nicht die Menschen, die von anderen als sehr unstressig oder makellos wahrgenommen werden. Es sind Menschen, die sich trauen, alles zu geben.

Es gibt für Sie also viel mehr Heilige als die offiziell Heiliggesprochenen?

Unbedingt! Ich glaube fest an unser aller Berufung zur Heiligkeit. Die Heiliggesprochenen haben das Glück, bekannt zu sein. Aber wie viele Menschen gibt es, die keine Öffentlichkeit haben, aber ganz groß die Liebe leben. Sie sind das Fundament der Gesellschaft: die, die im Stillen ganz Großes wirken. Aber auch Mahatma Gandhi ist für mich genauso ein Heiliger wie Frère Roger [Gründer und erster Prior der ökumenischen Communauté de Taizé, dort 2005 verstorben; Anm.d.Red.], der evangelisch war. Das kann man nicht festmachen an Konfessionen. Die Liebe ist die Liebe, und die ist absolut und universal. Sie verleiht Heiligen Strahlkraft.

Gleich nach Allerheiligen kommt Allerseelen. Aus pragmatischen Gründen – weil Allerheiligen in vielen Bundesländern ein Feiertag ist und Allerseelen nicht – verschiebt sich das Allerseelen-Brauchtum mit seinem Totengedenken meist auf Allerheiligen. Wird der Tag der Heiligen dadurch nicht überschattet?

Für mich ist das alles gar nicht so getrennt, die beiden Tage bilden in gewisser Weise eine Einheit. Da gibt es eben diese Menschen, die ich heute kenne und die wie Heilige für mich sind. Aber es gibt auch die Menschen, die uns vorangegangen sind, wo ich sage: Was war das für eine originelle Idee Gottes! Was hat er da in die Welt gesetzt und geschaffen? Für sie alle danke und bete ich. Und schließlich gibt es noch diese Menschen, die sich der Liebe versperrt haben in ihrem Leben, die ein ganz krasses Ego entwickelt haben. Ich bete für sie, dass sie sich im Tod der Liebe öffnen und von Gott erlösen lassen können – der macht das ja nicht ohne uns!

Halloween: "Die sollen ruhig ihren Spaß haben, aber eines finde ich schade"

Am Vorabend von Allerheiligen, dem 31. Oktober, feiern immer mehr Menschen Halloween. Was halten Sie davon?

Ich habe gar keine Beziehung dazu, weil das in meiner Kindheit nicht gefeiert wurde. Es ist mir eigentlich egal, die sollen ruhig ihren Spaß haben. Schade finde ich nur, dass mit dem Tod immer nur Erschreckendes in Verbindung gebracht wird. Unsere tiefste Würde als Menschen endet nicht mit dem Sterben. Nach dem Tod werden viele Dinge noch viel wirksamer – sowohl im Guten als auch im Schlechten.

Wie meinen Sie das?

Nehmen wir zum Beispiel zwischenmenschliche Beziehungen, die gestört waren: Das wiegt für den Hinterbliebenen nach einem Todesfall oft noch schwerer. Da bleibt etwas von uns und die Beziehung will und kann weiter gepflegt werden. Deshalb ist es so unheimlich traurig, Tod mit Gruselbildern zu verbinden, das entspricht nicht unserer Würde.

Was für eine Beziehung haben Sie zum Tod?

Beim Eintritt ins Ordensleben hat mich am meisten fasziniert, dass der Tod hier einen selbstverständlichen Platz hat. Wir beenden jeden Tag so, als wäre es unser letzter. Der Tod gehört unweigerlich zum Leben. Je mehr ich vor ihm davonlaufe oder mich grusele, umso mehr verliert mein Leben an Qualität, weil ich dauernd auf der Flucht bin. Die gesunde Auseinandersetzung mit ihm schenkt auch dem Leben neue Qualität. Ihn in die Gruselecke zu schieben, tut uns nicht gut. Genau deshalb hat für mich Halloween keine große Bedeutung. Ich finde es ziemlich hohl.

Was würden Sie Eltern raten, die ähnlich denken, deren Kinder aber unbedingt Halloween feiern wollen?

Ich würde das meinen eigenen Kindern auch nicht verbieten. Ich halte mich aus Halloween raus, auch weil ich mich nicht gerne grusele – bei Fastnacht mache ich dafür wild mit. Vielleicht braucht jeder eine Gelegenheit, mal zu eskalieren. (lacht) Man sollte das Thema auch nicht überhöhen, indem man es in die moralische Ecke schiebt. Schade ist nur: All diese Tage, auch der Valentinstag, sind nur noch Kommerz. Es ist richtig ätzend, wie wir in Richtung von sinnlosem Konsum manipuliert werden. Darüber vergessen wir das richtige Feiern und nehmen uns selbst viel von dem, was wirklich glücklich macht und uns echte Lebensqualität schenkt.

Verraten Sie uns noch zum Abschluss, da Allerseelen und das Totengedenken ja auch die eigene Sterblichkeit vor Augen führen: Haben Sie genauere Vorstellungen vom Tod?

Nein, die sind gar nicht so genau. (lacht) Ich habe aufgehört, mir da konkrete Vorstellungen zu machen. Worauf ich hoffe und was ich glaube: dass wir als Person erhalten bleiben - wie auch immer das physisch aussehen soll - und unser eigenes Leben vollendet und rund gemacht wird von Gott. Das nimmt mir die Angst zu sagen: Es gibt so viel ungelebtes Leben, ich konnte und musste nicht alles entfalten, nicht alles in diesem Leben leben, was vielleicht möglich gewesen wäre. Ich muss keine Angst haben, dass irgendwas von mir oder einem geliebten Menschen verloren geht. Daran glaube ich.

Zur Person: Die Dominikanerin Sr. Ursula M. Hertewich OP, 1975 im Saarland geboren, ist promovierte Pharmazeutin. 2003 war sie zu Besuch im Kloster Arenberg, zu dem auch ein Gästehaus samt Vitalzentrum gehört, und fand dort ihre Berufung. 2006 trat sie ins Kloster ein. Seit ihrer Ewigen Profess 2013 ist Sr. Ursula unter anderem für Seelsorge und die Ausbildung junger Schwestern zuständig. Immer wieder ist sie in Talkshows zu Gast und hält Vorträge. In einem ihrer Bücher, "ZweiSichten: Gedanken über Gott und die Welt" (Adeo, 2018, Mirko Kussin als Co-Autor), findet sich auch ein Kapitel zum Thema Heiligkeit.

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