- Große Kritik gibt es angesichts der Überflutungen an Katastrophenschutz und Behörden: Die Menschen seien nicht ausreichend gewarnt worden.
- Muss auch jeder Einzelne sein Bewusstsein für Risiken und Gefahren schärfen? Ja, meinen Risikoforscher.
Wenn in Kriegsgebieten die Sirenen heulen, suchen die Menschen Schutz in Bunkern. Wenn in Deutschland Sirenen heulen, gehen die meisten eher von einem Testlauf aus. Als in der vergangenen Woche Warn-Apps surrten und Starkregen ankündigten, rechneten die Menschen nicht mit dem, was kommen sollte. Große Kritik gibt es nun an den Behörden und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk: Das Ereignis sei absehbar gewesen, heißt es, die Menschen zu spät informiert worden.
Es fehlte also vielerorts an Informationen - dennoch beschäftigen sich Risikoforscher mit der Frage, ob auch die Bevölkerung das Bewusstsein für drohende Gefahren schärfen muss. Ortwin Renn hat eine Erklärung für die Neigung, warum viele Menschen sogar trotz Warnungen die Risiken falsch einschätzen. Laut dem Experten für Umwelt- und Risikosoziologie liegt das vor allem daran, dass Deutschland bisher tatsächlich weitgehend gut davongekommen ist, wenn es um Naturgefahren geht. Zwar bleiben Sachschäden, selten aber geht es um so viele Menschenleben.
"Wir haben eine lange Erfahrung damit, dass es glimpflich ausgeht", sagt der Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam. Selbst hochwassererprobte Menschen gingen oft davon aus, bei einer Warnung reiche es, Sandsäcke vor die Türen zu legen.
Naturkatastrophen: Kelch ging oft an uns vorüber - das hat uns geprägt
Zudem würden Deutsche auch in Umfragen eher technische Gefahren nennen, vor denen sie sich fürchten. "Natur kommt eher als Park mit Enten und Schwänen daher", sagt der Professor. "Nicht als Naturkraft mit Gewalten."
In Italien etwa hätten die Menschen angesichts von Erdbeben ein anderes Verhältnis dazu, sagt Renn. Er vergleicht das mit der Corona-Pandemie: "Alle anderen Epidemien der vergangenen Jahrzehnte sind an uns vorbeigegangen." Anfangs hätten viele Corona unterschätzt. "Dann haben sie gemerkt: Wir sind doch verwundbar."
Nun diskutiert die Politik über den Bevölkerungsschutz in Deutschland und darüber, ob früher und präziser gewarnt werden kann. Sehr genau vorhersagen lassen sich örtliche Starkregenereignisse aber nicht. "Selbst mit der besten Meteorologie nicht", betont Renn. "Eine etwas realistischere Einschätzung über Plötzlichkeit und Gewalt von Unwettern muss stärker ins Bewusstsein dringen."
Wir müssen lernen, Risiken realistisch einzuschätzen
"Risikokompetenz" nennt Gerd Gigerenzer das. Der Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam hat sich unter anderem der Frage gewidmet, warum wir fürchten, von einem Hai gefressen zu werden - aber keinen Gedanken daran verschwenden, dass wir auf dem Weg zum Strand bei einem Autounfall sterben könnten. Teils hänge es mit "biologischem Lernen" zusammen, teils mit "sozialem Lernen", schreibt er in seinem Buch "Risiko".
Als Beispiel nennt der Professor die Angst mancher vor Schlangen und Spinnen, obwohl die wenigsten hierzulande giftig sind. "Müssten wir durch persönliche Erfahrung lernen, ob von einem Tier eine tödliche Gefahr ausgeht, hätten wir eine höchst begrenzte Lebenserwartung", schreibt er. "Das Angstobjekt ist genetisch 'vorbereitet', doch um die Angst zu aktivieren, bedarf es eines sozialen Impulses."
Wichtig ist aus Sicht Gigerenzers, Risiken gut einschätzen zu können - selbst wenn nicht alle Fakten auf dem Tisch liegen. Als erstes nennt er in seinem Buch ausgerechnet ein ganz alltägliches Beispiel: Wetterberichte. Viele wüssten nicht, wie sie Regenwahrscheinlichkeiten korrekt interpretieren müssen. Teils mangele es an der nötigen Ausbildung in den Schulen, kritisiert Gigerenzer. Teils hätten aber auch Experten nie gelernt, Wahrscheinlichkeiten richtig zu erklären.
Psychologin warnt vor Panikmache
Und selbst wenn: Menschen ticken unterschiedlich. Die einen sind eher in Alarmbereitschaft, die anderen relaxter. Eigentlich müsste man sie unterschiedlich ansprechen, sagt Renn. Den einen klar machen, dass auch sie von einem heftigen Unwetter getroffenen werden können. Den anderen, dass nicht jeder Regenschauer zu Hochwasser führt.
Zumal zu viel Panik auch keine Lösung ist. Ohne die Annahme, dass man selbst schon davonkommt, dass die Katastrophe einen selbst nicht trifft, wären wir nicht handlungsfähig "vor lauter imaginierten und möglichen Katastrophen, die einträten könnten", formuliert Psychologin Isabella Heuser. Einen psychologischen Schutzmechanismus nennt die Direktorin der Klinik und Hochschulambulanz für Psychologische Medizin an der Charité Berlin das.
Zu viele Warnungen: "Katastrophen-Burnout"
Andersrum stumpften Menschen ab und gewöhnten sich an den Alarm, wenn ständig Warnungen gegeben werden, erläutert die Professorin. "Zumal wir seit einem Jahr beständig vor Gefahren (Pandemie) gewarnt werden." Sie bezeichnet das als Katastrophen-Burnout.
Also düstere Aussichten? Umweltsoziologe Renn meint: "Je mehr die Hochwasserereignisse verblassen, desto eher werden wir wieder in alte Routinen übergehen." Er empfiehlt Übungen, "um uns wachzuhalten". Viele wüssten gar nicht, wie man sich in einer solchen Situation verhalten müsste, dass man zum Beispiel nicht unbedingt noch die Fotoalben im Keller ins Trockene bringen sollte.
Und es lohne sich, über besondere Warnstufen nachzudenken, sagt er. "Wenn die App jeden Tag warnt, denkt man sich: 'Na und?'". Hier könnte eine weitere Alarmschwelle hilfreich sein - auch wenn präzise Aussagen, wo Katastrophen drohen, nur sehr kurzfristig möglich seien.
Starkregen und Hochwasser: Wie kann man sich warnen lassen?
In Friedenszeiten sind die Bundesländer für den Bevölkerungsschutz im Katastrophenfall zuständig. Aktuelle Warnmeldungen in Deutschland sind auf der Website des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe abrufbar. Auch einige andere Behörden schlagen Alarm. Über folgende Kanäle und Medien kann man sich informieren und warnen lassen:
- Die Warn-App Nina des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe und die von Fraunhofer Fokus entwickelte Katwarn-App halten Nutzer standortgenau auf dem Laufenden und haben Notfalltipps parat. Kommt es beispielsweise zu einem Unwetter oder Großbrand, sendet Nina Push-Benachrichtigung aufs Smartphone. Dafür ist aber eine Datenverbindung über Mobilfunknetz oder WLAN erforderlich. Als Quelle nutzt Nina das Modulare Warnsystem des Bundes (MoWaS).
- Die App Katwarn hingegen funktioniert nicht nur auf Smartphones. Nutzer älterer Handys können sich die Warnungen auch als SMS schicken lassen. Zur Anmeldung muss man lediglich eine SMS mit dem Wort "KATWARN" und der Postleitzahl, für die man Warnungen erhalten möchte, an 0163 7558842 senden. Die Warnhinweise stammen von autorisierten Behörden und werden von Katwarn weitergeleitet.
- Die vom Deutschen Wetterdienst (DWD) angebotene WarnWetter-App bezieht ihre Informationen von der DWD-Datenbank. Neben Warnungen vor Unwettern sowie Schnee und Glätte enthält die App auch Details zum aktuellen Wetter.
Weil sehr viele Menschen nicht über ein internetfähiges Handy verfügen, schlug der Landkreistag nun vor, bei drohender Gefahr SMS zu versenden. Ob und wann das SMS-Warnsystem eingerichtet sein wird, ist aber noch offen. Der große Haken dabei ist sowieso: Auch eine Warnung per SMS kommt nicht an, wenn Sturm oder Flutwasser die Mobilfunkmasten umreißen, wie es in vielen betroffenen Gebieten der Fall war.
Mehr Sirenen für Deutschland
Deshalb werden auch sie gerade wieder zum großen Thema: Sirenen. Ein Teil der Bevölkerung wurde vergangene Woche durch ihr Geheul alarmiert. Seit Ende des Kalten Krieges gibt es in vielen Kommunen aber nur noch wenige oder gar keine öffentlichen Sirenen mehr. Vorgeschrieben sind sie nur in der Nähe von Atomkraftwerken und großen Chemiebetrieben.
Gemeinden, die noch funktionstüchtige Sirenen und Lautsprecher-Anlagen haben, sind vor allem dann im Vorteil, wenn die Gefahr nachts droht und die Menschen schlafen. Ein Heulton weckt deutlich besser als eine SMS oder die Benachrichtigung einer App.
Kehren die Sirenen also zurück? Wo überhaupt welche stehen, dafür gibt es derzeit keinen bundesweiten Überblick. Das erklärte am Sonntag der Leiter des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Armin Schuster, im ZDF-"heute journal". Er verteidigte prinzipiell den Katastrophenschutz gegen die aktuelle Kritik. Das Problem sei gewesen, dass man oft eine halbe Stunde vorher noch nicht sagen kann, welchen Ort es mit welcher Regenmenge treffen wird.
Wo Menschen in den Hochwassergebieten durch Sirenen gewarnt worden seien und wo nicht, müsse noch ermittelt werden. Er wies aber darauf hin, dass der Bund den Ländern mit einem 90-Millionen-Euro-Programm beim Aufbau und der Ertüchtigung von Sirenen helfen will. (dpa/af)
Verwendete Quellen:
- dpa: Was bringen Warnungen? Wie Menschen mit Alarmen umgehen, Marco Krefting, 20.7.21; Starkregen und Hochwasser: Wie kann ich mich warnen lassen?, 20.7.21; Nach Flutkatastrophe: Schuster verteidigt Katastrophenschutz; 19.7.21.
© dpa
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.