- Das Hochwasser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ist die verheerendste Flutkatastrophe in Deutschland seit über 50 Jahren.
- Allerdings gab es bereits Tage vorher Warnungen, die die deutschen Behörden auch wahrnahmen.
- Hat der Katastrophenschutz in Deutschland angesichts von über 160 Todesopfern versagt?
Die Flutwelle brach in der Nacht über Altenahr herein. Am vergangenen Mittwoch stieg der Pegel in der rheinland-pfälzischen Gemeinde unentwegt an, das Flüsschen Ahr verwandelte sich binnen weniger Stunden in einen reißenden Strom: Von einem Meter um 12:00 Uhr mittags kletterte der Wasserstand laut Daten des Landesamts für Umwelt Rheinland-Pfalz auf zwei Meter um 18 Uhr und schließlich knapp vier Meter um Mitternacht. Das Hochwasser erreichte schließlich am frühen Donnerstagmorgen mit über 5,70 Metern seinen Höchststand – normal sind 0,5 Meter.
Die Wassermassen hinterließen im gesamten Ahrtal ein Trümmerfeld, sie zerstörten die Infrastruktur in einer Vielzahl von Orten. Etliche Straßen in der Region sind weiterhin gesperrt oder nicht befahrbar, es gibt weder fließend Wasser noch Strom und Telefonempfang.
Allein im Landkreis Ahrweiler sind 117 Menschen gestorben und mindestens 749 Menschen verletzt worden, wie eine Polizeisprecherin am Montag in Koblenz mitteilte. Damit ist das aktuelle Hochwasser, das auch in Teilen von Nordrhein-Westfalen großen Schaden anrichtete, mit insgesamt 163 Todesopfern das verheerendste in der Bundesrepublik seit der Hamburger Sturmflut von 1962. Damals kamen 340 Menschen zu Tode.
Die hohe Zahl von Opfern ist umso erstaunlicher, als ab 2002, nach Hochwassern an Elbe und Donau, ein europaweites Frühwarnsystem entwickelt wurde, das die Zeit für Vorbereitungsmaßnahmen und Evakuierungen vergrößern soll. Das funktionierte auch, denn deutsche Behörden erreichten bereits Tage vor der Katastrophe Hinweise über die bevorstehende Flut. Doch die Meldungen liefen wohl ins Leere. Hat der Katastrophenschutz in Deutschland beim jüngsten Hochwasser versagt?
Unwetter in Westdeutschland: Erste Flutwarnungen bereits am 9. Juli
Womöglich haben die Behörden Warnungen ignoriert oder die Gefahr unterschätzt. "Schon mehrere Tage vorher konnte man sehen, was bevorsteht", sagte die britische Hydrologie-Professorin Hannah Cloke von der Universität Reading dem ZDF. Ihr zufolge hätte das Europäische Hochwasserwarnsystem EFAS alle notwendigen Warnmeldungen verschickt, diese seien aber offenbar wegen einer unterbrochenen Meldekette nicht bei den Menschen angekommen.
Zumindest nicht bei allen: Denn in Hagen zum Beispiel wurde am Mittwochmorgen der bestehende Hochwasserschutz erweitert. Und im niederländischen Limburg begann man am gleichen Tag mit Evakuierungen.
Das EFAS selbst erklärte am Freitag, dass Hochwasservorhersagen bereits am 9. und 10. Juli eine "hohe" Wahrscheinlichkeit für Überflutungen im Rheingebiet angezeigt hätten. Vom 10. bis zum 14. Juli – also einen Tag vor dem Anstieg der Pegel – hat das EFAS laut eigener Aussage "mehr als 25 Warnungen für bestimmte Regionen des Rhein- und Maas-Einzugsgebietes an die zuständigen nationalen Behörden in Deutschland und Belgien verschickt.
Tatsächlich machte der EU-Notfall-Dienst Copernicus am Dienstagabend auf seinem Twitterkanal vor einer "Flut in Westdeutschland" aufmerksam. Das Gemeinsame Melde- und Lagezentrum (GMLZ) von Bund und Ländern selbst hatte Copernicus an dem Tag um 17:11 Uhr ausgelöst, um "starke Regenfälle" in Rheinland-Pfalz zu monitoren. Die deutschen Behörden rechneten mit einem "schweren Hochwasserereignis entlang der Mosel" in den darauffolgenden Tagen, sie ließen aber auch andere Flüsse – darunter auch die Ahr – durch den Dienst beobachten. Das heißt: Katastrophenschützer im Land wussten Bescheid.
NRW-Innenministerium: "Ein solches Ereignis war abzusehen"
Die britische "Sunday Times" berichtete am Sonntag, dass Wissenschaftler die deutschen Behörden mindestens 24 Stunden vorher mit – im Nachhinein erschreckend präzisen – Vorhersagen vor "extremen" Fluten unter anderem an der Ahr gewarnt hätten.
Tatsächlich waren die Behörden alles andere als unvorbereitet: Auf Anfrage der "Bild" erklärte die nordrhein-westfälische Landesregierung, dass sich die "amtlichen Warnungen vor extremem Unwetter" am Montagmorgen "konkretisierten". Einen Tag später habe man eine Landeslage eingerichtet, "da ein solches Ereignis abzusehen war". Das Innenministerium betonte zugleich, dass konkrete Vorbereitungen im Ermessen der Kreise und kreisfreien Städte lägen.
Hydrologin Cloke war selbst am Aufbau von EFAS beteiligt. Sie betont, Sturzfluten wie im Ahrtal seien nur sehr schwierig vorherzusagen. Dennoch habe es genug Vorlauf gegeben, um Evakuierungen zu planen. "Im Jahr 2021 sollten wir nicht so viele Todesopfer zu beklagen haben." Dass Menschen nicht evakuiert wurden oder die Warnungen nicht erhalten haben, lege nahe, "dass etwas schiefgegangen ist", sagte die Wissenschaftlerin der "Sunday Times".
Gemeinde-genaue Vorhersagen über Starkregen
Auch der Meteorologe Marcus Beyer vom Deutschen Wetterdienst (DWD) zeigt sich verwundert über das schleppende Vorgehen im Vorfeld des Desasters. "Das Ausmaß der Niederschläge wurde von den Modellen Tage im Voraus gut erfasst. Am Montagmorgen (drei Tage im Voraus) wurden erste Vorwarnungen ausgesprochen", schreibt Beyer auf Twitter.
Ein DWD-Sprecher sagte dem ZDF, dass man Gemeinde-genau mit genug zeitlichem Vorlauf vor Regenmengen von bis zu 200 Litern pro Quadratmeter gewarnt habe.
Der Landkreis Ahrweiler rief allerdings erst Mittwochnacht kurz nach 23:00 Uhr den Katastrophenfall aus. Zugleich wurde in einigen Orten begonnen, alle Gebäude in einem Umkreis von 50 Metern rechts und links der Ahr zu evakuieren – was aber bei weitem nicht ausreichte.
Ein Problem könnte Experten zufolge neben geringem Gefahrenbewusstsein vieler Bürger bei starkem Regen auch die verwendeten Technologien bei Katastrophenfällen in Deutschland sein: Sirenen wurden in den vergangenen Jahrzehnten landesweit sukzessive abgebaut, die Warn-Apps auf den Smartphones funktionieren offenbar noch immer nicht störungsfrei. So geriet etwa der erste bundesweite Warntag im vergangenen September zum Reinfall, die Probealarme auf den Handys funktionieren nicht.
FDP wirft Innenminister Seehofer "erhebliches Systemversagen" vor
FDP-Bundestagsfraktionsvize Michael Theurer sieht nun schwere Versäumnisse beim Bevölkerungsschutz. "Die rechtzeitigen Warnungen der Meteorologen sind weder von den Behörden noch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk hinreichend an die Bürgerinnen und Bürger kommuniziert worden", sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
"Es bietet sich das Bild eines erheblichen Systemversagens, für das der Bundesinnenminister
BBK-Leiter verteidigt Katastrophenschutz nach Flutkatastrophe
Der Leiter des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Armin Schuster, verteidigte hingegen den Katastrophenschutz gegen Kritik. "Unsere Warninfrastruktur hat geklappt im Bund", betonte Schuster am Sonntagabend im ZDF-"Heute Journal". "Der Deutsche Wetterdienst hat relativ gut gewarnt." Das Problem sei, dass man oft eine halbe Stunde vorher noch nicht sagen könne, welchen Ort es mit welcher Regenmenge treffen werde.
Klar ist aber, dass nur ein Teil der Bevölkerung mit Sirenengeheul alarmiert wurde. Schuster wies darauf hin, dass der Bund den Ländern mit einem 90-Millionen-Euro-Programm beim Aufbau und der Ertüchtigung von Sirenen helfen will.
Bislang gibt es allerdings noch nicht einmal einen bundesweiten Überblick, wo wie viele Sirenen stehen.
Verwendete Quellen:
- Meldungen der Deutschen Presse-Agentur und des Landkreises Ahrweiler
- Landesamt für Umwelt Rheinland-Pfalz: "Übersicht des Pegels Altenahr"
- ZDF: "Warum gab es trotz Vorwarnung über 100 Tote?"
- The Sunday Times: "Germany 'failed' to act on flood alerts'"
- Copernicus Emergency Management Service: "The Copernicus Emergency Management Service forecasts, warns, and monitors devastating floods in Germany, Netherlands, Belgium and Switzerland"
- Twitteraccounts des Copernicus Emergency Management Service und von Marcus Beyer
- Bild: "'Ein solches Ereignis war abzusehen'"
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