Im stattlichen Alter von 28 Jahren stellt der Messenger ICQ seine Dienste ein. Ein Nachruf auf den jungen Wilden der 2000er.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Tanja Ransom dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Wenn ICQ eine Person wäre, dann wäre es der ältere Bruder eines Freundes, der auf der Abiparty mit deutlich Jüngeren feiert, von seinen wilden Zeiten erzählt und dann eine Woche zum Auskatern braucht. Denn ICQ war zu seiner Zeit wirklich cool, nur das ist eben schon eine ganze Weile her.

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ICQ war das Whatsapp der 2000er. Eine ganze Generation knallte nach der Schule oder Uni den Eastpack in die Ecke, schaltete MTV auf dem Fernseher an und fuhr Windows 98 hoch. Schnell mit der meist neunstelligen ICQ-Nummer eingeloggt – und der Spaß konnte beginnen. Sofort sah man, wer von den Freunden bereits (oder immer noch) online war. Meistens waren es viele.

Jetzt konnten die wichtigen Themen des Lebens – die nächste LAN-Party oder das kürzlich abgeschlossene Jamba-Sparabo für das Nokia 3210 – besprochen werden. Und das völlig kostenlos und nicht beschränkt auf 160 Zeichen.

Mit am wichtigsten dabei war, dass der ICQ-Ton, der über eine neue Nachricht informiere, am besten so laut wie möglich zu hören war. Sie wissen schon. Der Ton, den Sie, wenn Sie ICQ genutzt haben, gerade jetzt zu hören glauben. Dieses „Aaaaah-oooooh“ war Balsam auf der (sehr spät-)pubertären Seele, es war der Beweis eines intakten Soziallebens, dass man dazu gehört.

Angeblich hatte ICQ 100 Millionen Anwender. Viele von ihnen wurden über Jahre darauf konditioniert, mit diesem Ton Freundschaft, Kontakt und Austausch zu verbinden. Der Pawlowsche Hund ist ein Witz dagegen. Gewagte These? Sprechen Sie jemanden über 30 auf ICQ an. Wahrscheinlich, dass er oder sie das Geräusch erwähnt. Sehr wahrscheinlich, dass er oder sie dabei lächelt.

Auch nach all den Jahren: Die Nummer gegen Kummer

Und wenn Sie schon dabei sind, fragen Sie mal, ob sich ihr Gegenüber noch an die eigene ICQ-Nummer erinnert. Die Antwort, die dann folgt, ist nicht selten eine mit größter Selbstverständlichkeit heruntergeratterte Zahlenkombinationen. So, als hätte man sich jahrelang darauf vorbereitet, diese Nummer in der abwegigsten Situation auswendig zu kennen.

Aber ehrlich gesagt war das seinerzeit auch so. Wenn man heute im Zuge einer nicht zu verbindlichen Kontaktaufnahme mit der Person der Begierde nach Insta oder Snap fragt, so war es damals die ICQ-Nummer. Man addete sich, nur um sich im Anschluss stundenlang Nonsens zu schreiben, sich zu ghosten (auch wenn das Wort damals niemand kannte) oder den Online-Status des anderen zu stalken.

Manche Dinge bleiben eben gleich, auch wenn sie sich zu ändern scheinen. Das gilt für Menschen und es gilt für unsere Kommunikation, auch wenn sich unsere bevorzugte Plattform geändert hat.

ICQ war damals Vorreiter und bereitete eine ganze Generation von Heranwachsenden darauf vor, immer online zu sein. Das war damals cool und hip – und hat sich aus heutiger Sicht ebenso überholt wie das Wort "hip".

Das ist vollkommen ok. Immerhin war ICQ, damals in den wilden Tagen, Wegbereiter unzähliger Partys. ICQ hat sich den Ruhestand im gesetzten Alter von 28 Jahren (gefühlt sind das 101 Jahre in Kommunikationstechnologiejahren) also mehr als verdient.

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