Heutzutage ist Ablenkung meist nur einen Klick entfernt. Schon kurze Wartezeiten überbrücken wir mit WhatsApp, Facebook oder Handy-Spielen. Dadurch ist Langeweile für viele Menschen ein Fremdwort geworden. Dabei würde uns ein bisschen mehr davon gut tun.
An der Haltestelle, an der Supermarktkasse, im Wartezimmer beim Arzt, im Stau: Im Alltag sind wir ständig gezwungen zu warten; mal ein paar Sekunden, mal länger.
Die Versuchung ist groß, jetzt das Smartphone herauszuholen und ein paar WhatsApp-Nachrichten zu beantworten, eine Runde Candy Crush Saga zu spielen oder Facebook aufzurufen.
Das alles verkürzt die Zeit und hält uns beschäftigt. Sonst könnte uns ja langweilig werden.
Aber ist es gut, dass viele Menschen das Warten nicht mehr aushalten und schon nach wenigen Minuten zum Handy greifen? Oder hat es vielleicht sogar negative Auswirkungen?
"Wir haben verlernt, in uns hineinzuhören", sagt Marc Wittmann. Der Psychologe und Humanbiologe forscht am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg zu allen möglichen Fragen rund um die Zeitwahrnehmung.
Warten lässt viele unruhig werden
Wittmann kann erklären, warum Menschen schnell zum Smartphone greifen: "In der Zeit, in der wir warten und nicht abgelenkt sind, werden wir uns plötzlich unserer selbst bewusst."
Wir bemerken uns also selbst und damit auch unsere Körperlichkeit. Erst dann achten wir auf die Zeit. Wenn wir diese aber wahrnehmen, vergeht sie scheinbar ganz langsam, sie dehnt sich.
Die Folge: Wir langweilen uns. "Das Erleben von sich selbst und das Erleben der Zeit hängen ganz stark miteinander zusammen – und das kann negative Emotionen auslösen."
Aber was ist eigentlich Langeweile? Wittmann erklärt: "Etwas überspitzt könnte man sagen, dass man es mit sich selbst nicht aushält."
Eigentlich ist das paradox. Denn andererseits beschweren sich viele Menschen darüber, dass ihr Alltag zu hektisch sei und sie viel zu wenig Zeit hätten.
Likes statt Langeweile
Ein Moment des Wartens könnte also eigentlich ein Moment der Ruhe und eine Pause sein.
"Wir könnten doch deshalb während einer Wartezeit einfach ganz entspannt mit uns sein, den Gedanken nachgehen und überlegen, was wir heute gemacht haben", meint auch der Psychologe und Autor zweier Bücher zum Thema Zeit.
Aber der Gedanke, einfach vor sich hinzustarren und gar nichts zu tun, lässt viele Menschen unruhig werden.
Denn andererseits erwarten uns auf dem Smartphone positive Signale in Form von E-Mails, Messages oder Likes. Diese belohnen und bestärken uns, wir sind "ein wenig süchtig" danach, sagt Wittmann.
Aber dadurch bremsen wir unsere Gedanken aus. Denn auch das kennt wohl jeder: Man starrt beim Zugfahren aus dem Fenster, macht sich bewusst keine Gedanken – und hat plötzlich einen guten Einfall. Oder mit einem Mal die Lösung für ein Problem im Kopf, über das man schon lange nachgegrübelt hat.
Ideen entwickeln sich in "leeren Zeiten"
Wittmann bestätigt das: "Man muss durch die Langeweile hindurch, um auf Ideen zu kommen. In 'leeren Zeiten' entwickelt sich oft etwas im Hinterstübchen, das erst dann ans Tageslicht kommen kann."
Das muss natürlich nicht immer so sein. Aber wenn es erst gar keinen Raum gibt fürs Abschweifen der Gedanken, weil man sich gleich ablenkt, kann sich nichts entwickeln.
Das größte Problem dabei: Heutzutage gibt es sehr viele Möglichkeiten zur Ablenkung. Vor allem durch das Smartphone. Damit steht uns "plötzlich die ganze Welt zur Verfügung. Und umgekehrt stehen wir für andere Menschen ebenfalls ständig zur Verfügung", sagt Wittmann.
Das ist aber noch nicht alles. Nach einem anstrengenden Arbeitstag schalten wir den Fernseher an, lassen das Radio laufen, lesen Zeitung oder ein Buch und gehen ins Fitnessstudio.
"Das sind alles Dinge, die ich und jeder andere gerne machen, und das alles ist nicht schlecht", erklärt der Experte. "Nur füllen wir eben jede leere Zeit mit Tätigkeiten. Häufig ist das auch eine Flucht vor sich selbst, eben eine Flucht vor der Langeweile."
"Tote Zeit" wurde auch früher gefüllt
Andererseits ist das Phänomen, dass Menschen "tote Zeit" füllen wollen, so neu nicht. Der technische Fortschritt verstärkte das Problem auch früher schon. Denn immer dann, wenn durch eine Erfindung Zeit gespart wurde, füllten die Leute die Zeit eben mit anderen Tätigkeiten.
So zum Beispiel nach der Erfindung der Waschmaschine. Der Psychologe sagt: "Waschen war früher anstrengend und dauerte Stunden. Heute brauchen wir dafür nur einen Knopfdruck. Wir haben sogar Trockner und bügelfreie Hemden." Aber für mehr Ruhe im Alltag sorgte auch das nicht.
Uns bleibt also nichts anderes übrig, als uns selbst zu ermahnen, in Wartezeiten tatsächlich einmal nichts zu tun.
Wittmann rät: "Wir müssen uns ja nicht unbedingt langweilen, wir können auch spazieren gehen. Wenn wir aber ständig Input haben, weil wir ständig Informationen aufsaugen, ist kein echter Output möglich. Erst wenn wir den Input abschneiden und die Gedanken einfach wälzen lassen, kann eine Idee entstehen."
Das passiere häufig genau dann, wenn wir gar nicht bewusst denken, etwa beim Joggen.
Oder wir üben uns in Entspannungsmethoden wie Meditation oder Yoga: All das ist darauf ausgerichtet, zur Ruhe zu kommen und sich selbst wieder besser zu spüren.
Dass sich viele Menschen mit diesen Techniken beschäftigen, ist laut Wittmann auch eine Reaktion – darauf, dass wir verlernt haben, gelassen und konzentriert für 30 Minuten einfach ruhig dazusitzen, nichts zu tun, sich nur auf das Atmen zu konzentrieren und auf das Hier und Jetzt.
Wir sollten Langweile also aushalten und als Chance sehen, statt sofort Facebook-Nachrichten zu checken oder durch die WhatsApp-Statusmeldungen der Freunde zu scrollen.
Aber Wittmann ist zuversichtlich: "Wir können lernen, in Momenten des Wartens zu denken: Super, jetzt nutze ich die Zeit für mich."
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