2019 war Natascha Sagorski mit ihrem ersten Kind schwanger. Doch sie erleidet eine Fehlgeburt. Ihre Bitte um eine Krankschreibung wird abgewiesen. Seitdem macht sie sich für einen gestaffelten Mutterschutz stark. Denn ihre persönliche Erfahrung hat ihr gezeigt: In Politik und Gesellschaft ist das Thema Fehlgeburt noch immer ein Tabu. Im Interview erklärt sie, warum das Private politisch ist und welche gesellschaftlichen Reaktionen auf Fehlgeburten hinterfragt werden sollten.

Ein Interview

Frau Sagorski, dass Sie heute in der Politik tätig sind, hat seinen Anfang in einem persönlichen Schicksalsschlag gefunden. 2019 haben Sie eine Fehlgeburt erlitten – nehmen Sie uns bitte mit in diese Zeit.

Natascha Sagorski: Ich war mit meinem ersten Kind, einem absoluten Wunschkind, schwanger. Damals stand der zweite Kontrolltermin an, zu dem ich zwischen zwei beruflichen Meetings "mal eben schnell" gegangen bin. Alles war bestens, ich erhielt meinen Mutterpass und sprach mit meinem Gynäkologen noch darüber, in welchem Krankenhaus ich entbinden wollte. Dann kam es zur Untersuchung und innerhalb einer Minute hat sich alles komplett gewandelt. Plötzlich fiel der Satz "Ich kann leider keinen Herzschlag finden". In diesem Moment verstand ich, dass unser Baby nicht mehr lebt. Dann ging alles ganz schnell und am nächsten Tag fand die Ausschabung statt.

Wie haben Sie diese Erfahrung erlebt?

Es war schrecklich. In der Klinik hingen an vielen Wänden große Porträtaufnahmen von Neugeborenen. Ich saß im Wartezimmer mit teilweise hochschwangeren Frauen und habe mitbekommen, wie auf der Station Babys geboren wurden. Ich habe mich gefühlt wie in einem Film, alles war vollkommen surreal. Der für mich prägendste Moment war, als ich nach dem Eingriff aus der Narkose aufgewacht bin. Ich hatte starke Schmerzen und Blutungen und bat das medizinische Personal um eine Krankschreibung für die kommenden Tage. Doch die Ärztin reagierte mit den Worten: "Eine Krankschreibung brauchen Sie nicht, Sie können morgen wieder ins Büro gehen."

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Wie haben Sie in dieser Situation reagiert?

Unmittelbar in dem Moment konnte ich die Reaktion der Ärztin gar nicht hinterfragen, weil ich vollkommen schockiert über die Aussage war. Normalerweise stehe ich für meine Rechte ein und nehme so etwas nicht hin. Aber in dieser Situation war ich dazu nicht in der Lage. Ich musste erst mal realisieren, dass ich gerade mein Baby verloren hatte und hatte in der Situation keine Ressourcen, um für meine Krankschreibung zu kämpfen.

Konnten Sie am nächsten Tag wieder arbeiten gehen?

Nein, natürlich nicht. Mein Mann hat dann viel herumtelefoniert. Nachdem mir auch in der gynäkologischen Praxis keine Krankschreibung ausgestellt wurde, wurde ich schließlich von meinem Hausarzt für vorerst eine Woche krankgeschrieben. Nach der Woche bin ich selbst in die Praxis gegangen und habe dann eine Krankschreibung für eine weitere Woche erhalten, weil ich ganz offensichtlich noch nicht in der Lage war, meinen Job auszuüben.

Was hat der fehlende Schutz mit Ihnen in dieser Situation gemacht?

Ich war in einer Starre, habe körperlichen und seelischen Schmerz gefühlt und für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Von außen wurde mir aber der Glaubenssatz "Stell dich nicht so an" gespiegelt. Dabei war ich schwanger, habe mich monatelang auf mein Baby gefreut und dieses Baby, das ich bereits geliebt habe, ist gestorben. Doch all diese Gefühle wurden mir mit Aussagen wie "Du warst ja erst in der zehnten Schwangerschaftswoche" abgesprochen. Irgendwann habe ich dann begonnen, mir Fragen zu stellen: Reagiere ich über? Bin ich zu dramatisch? Muss ich funktionieren? Man hinterfragt sich also in einer Situation, in der man ohnehin schon genug zu verarbeiten hat – das ist fast schon Satire.

"Wer vor der zwölften Schwangerschaftswoche sein Kind verliert, soll den Verlust bitteschön mit sich selbst ausmachen. Nach Erreichen der zwölften Schwangerschaftswoche dürfen dann aber Gender-Reveal-Partys gefeiert werden."

Natascha Sagorski über die gesellschaftliche Wahrnehmung von Fehlgeburten

Was sagen Reaktionen wie "Du warst ja erst in der zehnten Schwangerschaftswoche" über die gesellschaftliche Wahrnehmung von Fehlgeburten aus?

Es beginnt gewissermaßen schon mit der ungeschriebenen Zwölf-Wochen-Regel. Schwangere sollten vor der zwölften Schwangerschaftswoche im Idealfall gar nicht erst kommunizieren, schwanger zu sein, weil es während dieser Phase ja zu einer Fehlgeburt kommen könnte. Im Klartext bedeutet das: Wer vor der zwölften Schwangerschaftswoche sein Kind verliert, soll den Verlust bitteschön mit sich selbst ausmachen. Nach Erreichen der zwölften Schwangerschaftswoche dürfen dann aber Gender-Reveal-Partys gefeiert werden. Hier spielen sowohl die Gesellschaft als auch die Industrie eine entscheidende Rolle – denn beide Zweige blenden aus, dass eine Schwangerschaft nicht immer mit einem Happy End endet. Insofern finde ich, dass wir von der Zwölf-Wochen-Regel wegkommen sollten.

Ein gar nicht mal so einfach umsetzbares Unterfangen …

Richtig. Denn diese Regelung findet sich nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in den Gesetzen. Eine Frau, die eine Fehlgeburt nach der zwölften Woche erleidet, hat einen viermonatigen Kündigungsschutz. Verliert sie ihr Kind vor der zwölften Woche, hat sie keinen Kündigungsschutz. Diese Regelung spiegelt eben jenen gesellschaftlichen Glaubenssatz, dass eine Fehlgeburt vor der zwölften Schwangerschaftswoche nicht so schlimm sei und man im Anschluss direkt weiter funktionieren könne. Der emotionale und gesellschaftliche Aspekt ist demnach sehr eng mit der Gesetzeslage verwoben. Die Politik muss also eine Vorreiterfunktion einnehmen, damit die Gesellschaft nachziehen kann und Frauen damit eine Sicherheit erhalten, Fehlgeburten im beruflichen Kontext offener zu kommunizieren.

Ihre persönliche Geschichte hat Sie inzwischen selbst in die Politik geführt und Sie setzen sich für den gestaffelten Mutterschutz ein. Worum genau geht es dabei?

Aktuell schließt das Mutterschutzgesetz viele Frauen aus. Schwangere bekommen nur dann einen Mutterschutz nach der Geburt, wenn die Fehlgeburt nach der 24. Schwangerschaftswoche stattgefunden hat, das verstorbene Baby kurz geatmet hat oder mehr als 500 Gramm wiegt. In diesem Fall erhält die Mutter dann einen 18-wöchigen Mutterschutz. Die Mutter, deren Totgeborenes jedoch nur 490 Gramm wiegt, die aber genauso lange schwanger war, hat keinen Anspruch auf 18 Wochen Mutterschutz. Das ist eine unmenschliche Regelung, die aus medizinischer Sicht keinen Sinn ergibt und wahnsinnig unfair ist.

Wie erklären Sie sich diese Regelung?

Fehlgeburten sind noch immer ein Tabuthema. Das hat zur Folge, dass so wenig darüber gesprochen wird, dass sie auch in der Politik entsprechend wenig Aufmerksamkeit erhalten. Politik braucht Impulse aus der Zivilgesellschaft. In der ist das Thema Fehlgeburten oftmals noch ein Tabu. Dann bekommt die Politik auch viele Impulse aus gewissen Lobbys heraus. Frauen nach Fehlgeburten hatten aber in der Vergangenheit keine politische Lobby. Das haben wir geändert.

Was ist also das Ziel des gestaffelten Mutterschutzes?

Ziel ist, dass niemand mehr ausgeschlossen wird. Das bedeutet: Schwangere sollen nach ihrer Schwangerschaft einen Anspruch auf einen gewissen, zu Beginn freiwilligen Mutterschutz, auf ein kleines Wochenbett haben. Wir fordern zwei Wochen Mutterschutz ab der sechsten Schwangerschaftswoche. Gemäß unseres Modells wünschen wir uns, dass nach der 15. Schwangerschaftswoche ein Mutterschutz von vier Wochen gilt und – so wie bereits gängig – acht Wochen nach der 24. oder, wie im Koalitionsvertrag geschrieben, der 20. Schwangerschaftswoche. Wir sprechen also von einem Drei-Stufen-System, in dem es darum geht, Betroffene nicht auszuschließen, weil ein Totgeborenes wenige Gramm zu leicht war.

Gibt es Länder, die diesbezüglich bereits eine Vorbildfunktion erfüllen?

Natascha Sagorski ist Kolumnistin und Autorin und macht sich für einen gestaffelten Mutterschutz stark. © Ben Jenak

Es gibt viele Länder mit deutlich besseren Systemen, in denen sich die Frage nach einer Krankschreibung nach einer Fehlgeburt gar nicht erst stellt. Hier reicht bereits der Blick in die Niederlande oder nach Skandinavien, wo es deutlich mehr Hebammen gibt und die Arbeit von Hebammen im Gesundheitssystem einen ganz anderen Stellenwert hat. Bezüglich des gestaffelten Mutterschutzes zeigt sich aber erfreulicherweise, dass unsere Bewegung hier in Deutschland eine Vorbildfunktion hat. So hat etwa eine junge Frau aus Belgien in der Zeitung von meiner Petition für den gestaffelten Mutterschutz gelesen und darauf die gleiche Petition in Belgien gestartet. Auch in Österreich wurde die Petition aufgenommen – mit dem Erfolg, nach einem Schwangerschaftsverlust ab der 18. Schwangerschaftswoche eine Hebammenbetreuung zu erhalten. Ebenso in der Schweiz oder in Frankreich, wo Aktivistengruppen die Petition gestartet haben. Zu sehen, dass dieses wichtige Thema eine europäische Welle entstehen lässt, zeigt, dass der Mutterschutz nach Fehlgeburten ein weitreichendes Problem ist – nicht nur in Deutschland. Es ist schön, dass Frauen nach einer Fehlgeburt laut werden und ihre Stimme nutzen.

Wo stehen wir im Jahr 2024, wenn es um die Enttabuisierung von Schwangerschaftsverlusten geht?

Man liest natürlich deutlich mehr über das Thema, als noch vor einigen Jahren. Dennoch weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es auch Mut braucht, diese Erfahrung offen zu kommunizieren. Als ich nach meiner Fehlgeburt offensiv mit dem Thema an die Öffentlichkeit gegangen bin, habe ich keine einzige negative Rückmeldung bekommen. Im Gegenteil: Vielmehr gab es Reaktionen aus meinem Umfeld wie "Das ist uns leider auch schon passiert". Insofern lohnt es sich, transparent mit dem Tabuthema Fehlgeburt umzugehen, wobei die Betroffenen ganz individuell den richtigen Zeitpunkt für sich finden müssen.

Diese Reaktionen zeigen, dass Fehlgeburten uns alle etwas angehen …

Absolut. Wobei ich in meinem politischen Engagement immer wieder feststelle, dass ich vorrangig Politikerinnen erreiche. Aktuell arbeite ich an einer größeren Kampagne mit Persönlichkeiten, die sich für den gestaffelten Mutterschutz aussprechen. In diesem Rahmen stelle ich immer wieder fest, wie schwierig es ist, Männer für das Projekt zu gewinnen. Eine Fehlgeburt aus männlicher Perspektive ist ein großes Tabu. Zudem wird häufig nicht verstanden, dass Mutterschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und auch Männer etwas angeht – Fehlgeburten sind kein Nischenthema. Auch Männer leiden nach Fehlgeburten. Es ist nicht nur die Mama, die ihr Kind verliert; auch der Papa erleidet einen Verlust. Diesbezüglich herrscht häufig eine noch viel größere Sprachlosigkeit. Es ist demnach gar nicht mal so einfach, sogenannte Sternenpapas zu finden, die über ihre Geschichte sprechen wollen.

"Wir wissen, wie viele Menschen Kaffee lieber mit Kapseln statt mit der Filtermaschine zubereiten, aber wir wissen nicht, wie viele Frauen in Deutschland Fehlgeburten erleiden. Das ist ein Skandal."

Natascha Sagorski

Wohl jede dritte Frau erleidet eine Fehlgeburt. Haben Sie das Gefühl, dass gesamtgesellschaftlich ein Bewusstsein dafür besteht, wie viele Schwangere ihr Kind verlieren?

Nein, das habe ich nicht. Auch als Betroffene ist man immer wieder überrascht, wie voll das Umfeld mit weiteren Betroffenen ist. Hierbei ist problematisch, dass die Zahl der Fehlgeburten in Deutschland statistisch nicht erhoben wird. Wir wissen, wie viele Menschen Kaffee lieber mit Kapseln statt mit der Filtermaschine zubereiten, aber wir wissen nicht, wie viele Frauen in Deutschland Fehlgeburten erleiden. Das ist ein Skandal. Gespräche mit Gynäkologen und Gynäkologinnen zeigen zudem, dass die Dunkelziffer der Fehlgeburten vermutlich noch höher ist, weil es auch unbemerkte Fehlgeburten gibt. Dass eine so wichtige Zahl, die viele Familien betrifft und tiefe Einschnitte mit sich bringen kann, nicht erhoben wird, zeigt das fehlende Bewusstsein rund um das Thema Fehlgeburten in der Gesellschaft.

Wo fehlendes Bewusstsein herrscht, herrscht gleichermaßen häufig auch fehlendes Wissen …

Exakt. Viele Betroffene wissen gar nicht, welche Rechte sie haben. Ich hoffe, dass sie schon bald das Recht auf gestaffelten Mutterschutz haben, aber viele Betroffene sind sich nicht im Klaren darüber, dass sie das Recht auf eine Hebamme haben. Auch ich habe meine Hebamme nach meiner Fehlgeburt nicht angerufen, weil ich ja nicht mehr schwanger war und schlichtweg nicht wusste, dass ich trotz Fehlgeburt das Recht auf eine Hebammenbetreuung hatte. Auch eine Ausschabung muss aus medizinischer Sicht nicht immer zwingend vorgenommen werden – nur wissen viele Frauen das nicht. Umso wichtiger ist es, dieses Wissen zu transportieren. Hierbei geht es vor allem darum, Frauen dieses Wissen bereits vor ihrer Schwangerschaft zu vermitteln. Das Wissen rund um Fehlgeburten muss Allgemeinwissen werden.

Über die Gesprächspartnerin

  • Natascha Sagorski ist eine deutsche Kolumnistin und Autorin. Seit dem Verlust ihres ungeborenen Kindes macht sie sich für einen gestaffelten Mutterschutz stark. 2022 erschien ihr Buch "Jede 3. Frau: 25 Frauen erzählen von ihren Schwangerschaften ohne Happy End – und wie sie danach trotzdem ihren Weg gefunden haben".

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