Wir alle kennen sie und träumen vielleicht insgeheim sogar von ihr: der Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Erzählung. Doch wie realistisch ist ein solcher sozialer und finanzieller Aufstieg in der Welt, in der wir leben, tatsächlich? Im Interview erklärt die Autorin Ciani-Sophia Hoeder, wie es um die Chancengleichheit in unserer Gesellschaft ihrer Ansicht nach steht und warum sie gerne Altkanzler Gerhard Schröder als Vorbild zitiert.
Frau Hoeder, inwiefern beeinflusst uns unsere soziale Herkunft?
Ciani-Sophia Hoeder: Soziale Herkunft beeinflusst den Bildungsweg, die Frage, wie viel Geld eine Person verdient, wen sie attraktiv findet, was sie schön findet, wie sie lebt. Kurzum: Soziale Herkunft beeinflusst ganz viele Faktoren, nicht nur finanzielle.
Sie sagen, die soziale Herkunft definiert den Verlauf unseres Lebens. Werden wir also in unser Schicksal hineingeboren?
Untersuchungen zeigen, dass die soziale Herkunft mehr über den Bildungserfolg bestimmt als die Leistung. Wir leben zwar in einer Leistungsgesellschaft, dennoch spielt die Leistung eine kleinere Rolle als die Tatsache, wo und wie man aufgewachsen ist. So kam auch der Titel meines Buches "Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher" zustande: Wir lieben und glauben an die Sage des Tellerwäschers, der zum Millionär wird. Gleichzeitig gibt es aber das Bewusstsein, dass eine Person aus einem reichen Haushalt es in unserer Gesellschaft leichter hat als ein Mensch, der in Armut aufgewachsen ist.
Dennoch gibt es Fälle, in denen sich der Traum vom Tellerwäscher zum Millionär erfüllt …
Natürlich gibt diese Ausnahmen und damit gewisse Menschen, die es schaffen. Häufig schauen wir bei diesen Ausnahmefällen aber nicht auf die wirkliche Biografie des Menschen. Wurde die Person möglicherweise finanziert? Gab es ein unvorhergesehenes Erbe? Wichtig ist dennoch, dass die Menschen, die den sozialen Aufstieg geschafft haben, ihre soziale Herkunft hervorheben. Denn es braucht diese Vorbilder.
Können Sie spontan ein solches Vorbild nennen?
Ich nenne in diesem Zusammenhang immer gerne den früheren Bundeskanzler
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Daraus resultiert dann die Frage, warum die anderen Menschen den sozialen Aufstieg nicht schaffen. Insofern lieben wir einerseits die Geschichte des Tellerwäschers, der zum Millionär wird, doch auf der anderen Seite hinterfragen wir sie häufig nicht genug und setzen Aufstieg ausschließlich mit Fleiß gleich.
Diese Sichtweise kann einen verklärten Blick auf die Realität hervorrufen …
Richtig. Wir schaffen damit ein Alibi, mit dem wir das System aufrechterhalten. Statistiken zeigen, dass es durchschnittlich fünf Generationen dauert, bis ein Kind aus einem prekären Haushalt sozial aufstiegt. Insofern dürfen wir uns also von den Ausnahmefällen nicht blenden lassen. Wir lieben diese Geschichten, doch sie spiegeln nicht die Realität wider.
An wen richtet sich Ihr Buch "Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher" konkret? An den Tellerwäscher oder vielmehr an den Millionär?
Das Buch ist ein Einstiegsbuch für Menschen, die unsere Klassengesellschaft kennen, aber kein allzu starkes Bewusstsein für sie haben, Klassen mit der DDR-Vergangenheit assoziieren oder womöglich denken, Klasse sei gar kein Thema mehr. Es richtet sich also an die sogenannte Mittelschicht und natürlich auch an Menschen, die überwohlständig sind. Viele Menschen sprechen übrigens von sich als Mittelschicht, obwohl sie dieser gar nicht zugehören. Damit meine ich zum Teil Menschen, die deutlich mehr Geld verdienen, sich aber dennoch in der Mittelschicht verorten. Auch an diese Menschen richtet sich das Buch.
Wer ist für Sie die Mittelschicht?
Interessanterweise ist mir durch die Recherche für mein Buch bewusst geworden, dass es nicht nur "diese eine" Mittelschicht gibt, sondern wir vielmehr von einer gespaltenen Mittelschicht sprechen. Auf der einen Seite steht die klassische Mittelschicht für Menschen, die eine Berufsausbildung machen, im ländlichen Gebiet wohnen und globaler Veränderung mit ihren neuen Möglichkeiten sehr kritisch gegenüberstehen. Dem gegenüber steht die neue Mittelklasse, die von der Bildungsexpansion profitiert hat. Das sind meistens Menschen mit einem akademischen Background oder in geisteswissenschaftlichen Bereichen arbeiten. Sie leben in Städten, sind kosmopolitisch und feministisch. Diese beiden Klassen diskutieren sehr viel, obwohl sie sich grundsätzlich sehr ähnlich sind.
Worüber diskutieren sie?
Beide Klassen gehen etwa bei den typischen Discountern einkaufen. Die eine kauft ein Steak, die andere ein Soja-Schnitzel. Dennoch sind sie sehr nah beieinander. Das führt zu einem Klassenkulturkampf und macht die Mittelschicht sehr groß, aber eben auch sehr unterschiedlich. Das bedeutet auch, dass die Mittelschicht Probleme hat, sich in den Klassen einzuordnen. Das führt wiederum dazu, dass wir die Menschen vergessen, die wirklich prekär sind und Hilfe benötigen. Dabei leiden diese Menschen am meisten unter den Veränderungen in unserer Gesellschaft und der Armutsschere. Das ist meiner Meinung nach sehr gefährlich.
Wie steht es um die Chancengleichheit? In Ihrem Buchtitel sprechen Sie von der "Lüge von der Chancengleichheit".
Chancengleichheit bedeutet, dass jeder Mensch in Deutschland grundsätzlich zur Schule gehen, sein Abitur machen, studieren oder ein Unternehmen gründen kann. Was bei diesem Gedanken jedoch unberücksichtigt bleibt, ist die soziale Dimension einzelner Familien. Es gibt Kinder, deren Eltern in Schichten arbeiten und demzufolge nach der Schule alleine zu Hause sind. Das Kind kocht also für sich alleine, kümmert sich möglicherweise um seine Geschwister und muss bei alldem seine Hausaufgaben bewältigen – und die der Geschwister womöglich betreuen.
Ich will damit sagen: Dieses Kind muss im Bildungssystem bestehen, während es Familien gibt, in denen ein Elternteil zu Hause ist, das den Haushalt, das Zubereiten von Mahlzeiten und die Betreuung übernimmt. Kinder aus diesen Haushalten erfahren demnach eine andere soziale Unterstützung. Die Bildungsrealitäten dieser Kinder sind also grundlegend unterschiedlich, was von der sogenannten Chancengleichheit aber ignoriert wird.
Bildung ist also nicht die alleinige Lösung?
Genau. Wir sehen an den Statistiken, dass die soziale Herkunft über den Erfolg bestimmt. Es braucht viel mehr, um die sozialen Dimensionen anzugleichen.
Was bräuchte es, damit diese Familien in ähnlichen Verhältnissen leben?
Eine Wohlstandsverteilung. Doch bei diesem Begriff schalten viele Menschen ab und bekommen Angst. Schnell fallen dann Schlagworte wie "Neiddebatte", doch jetzt mal ehrlich: Eine Mutter, die im Schichtdienst tätig ist und auf keinen langen Bildungsweg blickt, ist in einem Teufelskreis gefangen. Ihre Realität und die Realität ihres Kindes würde sich entsprechend ändern, wenn sie mehr Geld zur Verfügung hätte, um ihr Kind mehr unterstützen zu können. Diskutieren wir also über Bildungsgerechtigkeit, muss meiner Meinung nach auch mehr über Wohlstandsverteilung gesprochen werden.
Wir sollten auch das Streben nach oben hinterfragen. Warum ist eine bestimmte Klasse das Ziel? Es geht nicht nur darum, dass der Kellner wirtschaftlich entlastet wird wie ein CEO, sondern dass er auch die gleiche Anerkennung erhält. Es geht also nicht nur um Geld, sondern auch um soziale Anerkennung. Warum muss es immer nach oben gehen? Wie können wir alle Klassen stärken, ohne dass sie ihre ursprüngliche Position verlassen müssen?
Wie könnte also eine gerechtere Zukunft für alle Menschen aussehen?
Ich glaube, wir müssen uns von dem Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Glaubenssatz verabschieden und uns stattdessen Statistiken und Fakten ansehen, wie es um unsere Welt steht. Wir brauchen einen Ansatz, wie wir gesamtgesellschaftlich in einer Gemeinschaft leben können. Faktoren wie Ökologie, Gender oder Klasse sind miteinander verknüpft. Die Lösung wäre also, global darüber zu diskutieren, Tempo aus unserem leistungsorientierten Leben herauszunehmen. Hier kommt jedoch die Wohlstandsgesellschaft ins Spiel, die an den bisherigen Strukturen festhält, um ihren Wohlstand aufrechtzuerhalten. Und auch wir halten an diesen Strukturen fest, weil wir weiterhin am Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Bild festhalten …
Über die Gesprächspartnerin
- Ciani-Sophia Hoeder ist freie Journalistin und Gründerin von RosaMag, dem ersten Online-Lifestylemagazins für Schwarze Frauen im deutschsprachigen Raum. Sie studierte Politik und Journalismus in Berlin und London.
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