• Seit zwei Jahren beherrscht Corona unseren Alltag. Doch seit Beginn des Ukraine-Krieges scheint das Thema kaum noch eine Rolle zu spielen.
  • Viele Menschen sind nun eher wegen eines möglichen Dritten Weltkriegs besorgt. Laut einer aktuellen Umfrage haben 69 Prozent Angst davor.
  • Doch warum genau empfinden wir die Pandemie auf einmal als gar nicht mehr so schlimm? Wir haben mit der Kölner Psychologin Elisabeth Raffauf darüber gesprochen. Sie erklärt das psychologische Phänomen.
Ein Interview

Corona hat zwei Jahre unser Denken beherrscht, doch seit Kriegsbeginn spielt es im Alltag vieler Leute keine Rolle mehr. Es wirkt auch plötzlich weniger gefährlich. Warum erleben wir das so?

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Elisabeth Raffauf: Corona hat uns die letzten Jahre ohnmächtig gemacht und uns viel abverlangt. Wir sind regelecht mürbe von diesem kleinen, unsichtbaren Feind. Seit Kriegsbeginn sehen wir nun auf einmal sehr konkrete Bilder von Panzern, Raketen und Menschen, die sterben. Wir erleben, wie Gewalt hautnah ausgeübt wird. Diese Brutalität empfinden wir als eine andere, viel spürbarere Form der Bedrohung. Das Ganze hat ein viel realeres Gesicht, da es um ganz konkrete Personen geht.

Kam uns Corona weniger schlimm vor, als es eigentlich war?

Da kommt es auf den Vergleich an. Corona ereilte uns in einer Zeit, in der wir unbehelligt waren. Das Virus machte den meisten von uns einen deutlichen Strich durch die Rechnung. Es durchkreuzte die meisten unserer Pläne. Das brachte viele Probleme mit sich und war für viele schlimm. Davon fühlen wir uns ausgelaugt, wir sind psychisch ziemlich am Boden. Auf diesen Boden fällt nun der Krieg. Dieser bringt nun noch zusätzliche Probleme in einer ganz anderen, schlimmeren Dimension mit sich. Das relativiert einiges.

"Anstelle von Aufregung tritt Gewöhnung"

Welche psychologischen Mechanismen stecken dahinter?

Auf der einen Seite sind wir nun schon geübter, was Corona betrifft. Wir haben uns daran gewöhnt, Masken im Alltag zu tragen und mit so einer Art von Krise zu leben. Wir haben uns mit manchem arrangiert. Die Aufregung am Anfang kann man nicht konstant aufrechterhalten; anstelle von Aufregung tritt auch Gewöhnung. Auf der anderen Seite fühlen sich viele von uns seit Kriegsbeginn ohnmächtig und total hilflos. Wir sind in Schockstarre. Das stresst natürlich.

Können wir unsere Aufmerksamkeit überhaupt auf zwei so schlimme Dinge, also Pandemie und Krieg, gleichzeitig richten?

Wir richten unsere Aufmerksamkeit immer auf das, was für uns am emotionalsten und am intensivsten ist. Das ist aktuell der Krieg. Wir empfinden Angst, auch die Schrecken des Krieges bald selbst erleben zu müssen – Existenzangst macht sich breit. Corona hat im Vergleich seinen Schrecken, sein Fremdes, sein Unbekanntes weitgehend verloren.

Den Umgang mir den eigenen Ängsten lernen

Manche Menschen halten diese Ängste einfacher aus, andere wiederum nicht. Ihnen kommt dann so ein Krieg besonders schlimm vor. Woran liegt das?

Tatsächlich betrachten manche Menschen die Kriegssituation in der Ukraine gerade gelassener und besonnener als andere. Sie haben in der Vergangenheit vielleicht besser gelernt mit Angst umzugehen. Die entscheidende Frage ist: Wie viel Vertrauen haben wir? Wir können selbst ja nichts an der politischen Situation ändern. Das heißt wir müssen vertrauen, dass Putin nicht wagt, uns anzugreifen, und dass unsere Politiker uns schützen. Wie viel Vertrauen man da hat, das ist je nach Mensch ganz unterschiedlich. Manche können mit unsicheren, unklaren Situationen besser zurechtkommen, andere werden panisch, wenn sie etwas gar nicht kontrollieren können.

Was raten Sie Menschen, die wegen der Kriegssituation nun besonders viel Angst haben?

Wenn Ihnen die Situation aktuell Angst macht, überlegen Sie sich, was Ihnen mehr Sicherheit geben könnte. Macht es Sie sicherer, wenn Sie zum Beispiel nachlesen, wie die NATO funktioniert oder wenn Sie nur etwa einmal am Tag die Nachrichten mitbekommen? Oder hilft es Ihnen, aktiv zu werden, zu demonstrieren, zu spenden oder Ähnliches? Finden Sie etwas, was Ihnen mehr Sicherheit und Einwirkungsmöglichkeit gibt, um das Gefühl der Hilflosigkeit zu verringern.

Was mache ich, wenn ich weder vom Krieg noch von Corona abschalten kann und mir das alles zu viel wird?

Geben Sie Ihrer Angst Platz und schieben Sie sie nicht weg, denn was wir verdrängen, kommt wieder. Sagen Sie sich: "Heute hier und jetzt bin ich sicher". Leben Sie im Moment und schirmen Sie sich von zu vielen belastenden Nachrichten etwas ab. Reden Sie auch mit anderen, nahestehenden Personen, sodass die Sorgen auf mehreren Schultern verteilt werden. Wichtig ist, aus dem "Ja, aber wenn"-Modus auszubrechen und aufzuhören, sich nur die schlimmste Zukunft auszumalen. Sagen Sie sich, dass das alles nur Gedankenspiele sind und dass es mit der Realität nicht allzu viel zu tun hat. Gut ist, die eigenen Gedanken zurückholen in das Hier und Jetzt und zu schauen, was ist und nicht, was sein könnte.

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Über die Expertin: Elisabeth Raffauf ist langjährige Diplom-Psychologin und Autorin. Sie betreibt eine eigene Praxis in Köln und arbeitet als psychologische Expertin im WDR und anderen Medien. Darüber hinaus hat sie zahlreiche Erziehungsratgeber veröffentlicht, u.a. "Über Terror und Gewalt mit Kita-Kindern sprechen".

Verwendete Quelle:

  • Statista.com: Befürchten Sie, dass der Krieg in der Ukraine einen Dritten Weltkrieg auslösen könnte? (Umfrage - März 2022)
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