- War das letztes oder doch schon vorletztes Jahr? Corona hat bei vielen das Zeitgefühl verändert.
- Manche empfanden die zwei Jahre als ewig, für andere fühlen sie sich an wie auf ein Jahr zusammengeschrumpft.
- Wie haben Sie es empfunden? Es hängt von der eigenen Situation und vom Alter ab.
Die zwei Jahre Corona vergingen für Sie rückblickend wie im Flug oder kommen Ihnen viel länger vor als sie objektiv waren? Wie lang jeder von uns die Pandemiezeit zurückschauend empfindet, hängt von unserer persönlichen Lebenssituation ab. Grund dafür ist unser individuelles Zeitgefühl, das sich verändert, wenn Routinen durch Lockdowns & Co. verschwinden.
Wer die Corona-Zeit als pflegende oder ärztliche Fachperson erlebt hat oder Kinder im Home-Schooling in der Heimarbeit betreuen musste, empfindet sie rückblickend anders als Menschen, deren Alltag kaum von Corona betroffen war und die sogar zusätzlich Zeit für sich gewannen. Wie wir Zeit wahrnehmen, hängt dabei vor allem vom Alter, Stresslevel und der Intensität der sozialen Interaktion ab, wie Ergebnisse aus der Zeitforschung zeigen.
Wegfall von Routinen: subjektives Zeitempfinden verändert sich
"Meist steht der objektive Takt der Uhrzeit in unserem Zeitbewusstsein im Vordergrund. Das kann eine Stunde sein oder auch ein ganzer Tag. Danach richten wir unser Handeln aus. Subjektiv ist das allerdings anders, mal vergeht die Zeit sehr schnell, mal dehnt sie sich sehr lang", erklärt die Zeitforscherin Elke Großer.
Fallen unsere Routinen weg, verändert sich unmittelbar unsere subjektive Wahrnehmung der Zeit. Dieses Phänomen machte sich in der Pandemie bemerkbar.
"Unsere Zukunfts- und Planungshorizonte sowie die Alltagstrukturen waren aufgelöst. Wir begannen, sie individuell neu zu gestalten. Das hat unser Zeitgefühl in der Pandemie erheblich verändert," erläutert Elke Großer.
80 Prozent empfanden die Zeit plötzlich anders
Das belegt auch eine zu Beginn des ersten Lockdowns getätigte Studie aus Großbritannien. Untersucht wurde, wie veränderte Tages- und Wochenabläufe aufgrund des Lockdowns das Zeitempfinden beeinflussten.
Das Ergebnis war eindeutig: Rund 80 Prozent der Befragten empfanden den Zeitablauf während des Lockdowns als verzerrt:
- 40 Prozent davon gaben an, dass für sie die Zeit deutlich langsamer verging. Zu dieser Gruppe gehörten vor allem ältere Leute, Menschen, deren Stresslevel durch die Maßnahmen stark anstieg und Personen, die sich zu Hause langweilten und zu wenig soziale Interaktion erlebten.
- Für die anderen 40 Prozent verging die Zeit während des Lockdowns gefühlt schneller - darunter oft Jüngere sowie sozial zufriedenere Menschen.
Die Studie zeigte: Je nachdem wie stark sich unsere Routinen verändern und ob wir jung oder älter sind, mehr oder weniger Stress und Highlights im Alltag erleben, verändert sich auch unser Zeitgefühl.
Darum spielt das Alter beim Zeitempfinden eine große Rolle
Doch warum spielt der Faktor "Alter" eine wesentliche Rolle bei der Wahrnehmung der Zeit? Ältere Menschen, sagt die Zeitforscherin Elke Großer, unternehmen tendenziell weniger am Tag als Jüngere, ihr Bewegungsradius sinkt mit zunehmendem Alter, es gibt im Alltag seltener neue Ereignisse und viele feste Routinen.
"Corona hat das verstärkt. In der Pandemie waren Ältere noch mehr als gewöhnlich zu Hause und erlebten noch weniger Ereignisse. Die Wochentage unterschieden sich so gut wie gar nicht mehr voneinander. Die Zeit erschien ihnen im Moment des Erlebens deshalb zäh und langsamer vergehend, weil nichts passierte."
Rückblickend kommen älteren Menschen die zwei Corona-Jahre jedoch viel schneller vergangen vor als es objektiv der Fall ist. Die Wissenschaft spricht hierbei von einem Zeitparadoxon: "Weil die Tage so leer waren, kommen sie den Menschen rückblickend so schnell vergangen vor. Der Grund: Sie haben sich mit Belanglosem, Langweiligem abgelenkt, aber in der Erinnerung bleibt nichts davon hängen", erläutert die Zeitforscherin.
Wie Stress uns Zeit anders wahrnehmen lässt
Auch Stress verändert unsere subjektive Zeitwahrnehmung. Wer wenig Zeit für eigene Interessen hat und ständig fremdbestimmt Dinge für andere tut, fühlt sich unzufrieden und ist vergleichsweise gestresster. Das betrifft zum Beispiel Menschen, die gemeinsam mit vielen anderen auf engem Raum wohnen.
"Menschen, die von Home-Schooling und Home-Office zeitgleich betroffen waren, und natürlich Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegerinnen und Pfleger waren im Dauerstress", sagt Elke Großer. Die Folge: Betroffene empfanden die Zeit im Moment des Geschehens als langsam vergehend. "Rückblickend heißt es dann: ‚Die Zeit verging ja wie im Flug‘. Auch hier greift dann das beschriebene Zeitparadoxon, weil ständig nur das Gleiche passierte", so die Zeitforscherin.
Corona-Alltag: Zufriedenheit verändert das Empfinden von Zeit
Wer im Gegensatz dazu zufriedener durch den Corona-Alltag kam, für den verging die Zeit rückblickend langsamer. Woran liegt das?
Elke Großer beschreibt das Phänomen: "Wer mit den einschränkenden Maßnahmen besser umgehen konnte, gönnte sich zum Beispiel mehr Schlaf. Im Home-Office entfiel auch der Weg zur Arbeit. Einige Menschen profitierten davon. Das Mehr an Zeit nutzten sie und schufen sich neue Höhepunkte im Alltag. Dieser Gruppe kommt die Pandemie rückblickend nun langsamer vergangen vor, weil auch in dieser Zeit viel positive Ereignisse passierten, an die sie sich zurückerinnern."
Lernen, sein eigener Herr über die Zeit zu werden
Menschen, die stressig und unzufrieden durch die Pandemie kamen, rät die Zeitforscherin, zu erlernen, wie sie bewusster mit der eigenen Zeit umgehen können. Sie empfiehlt, die Zeit besser zu nutzen für Dinge, die gut tun. Sei es wichtige Beziehungen mehr zu pflegen, öfter schöne Musik zu hören, etwas Besonderes zu kochen, die Seele baumeln zu lassen, Neues auszuprobieren oder mal ausgedehnt zu frühstücken. "Hauptsache Sie schaffen sich bewusst schöne Momente", sagt Elke Großer. Wem es gelingt, seine Alltagsstrukturen und seine Zeit immer mehr selbst zu bestimmen, erfährt schließlich neuen Halt und wird sein eigener Zeit-Chef.
Für Elke Großer bietet gerade die Corona-Zeit eine große Chance sich diese Zeitkompetenz anzueignen: "Jetzt wäre ein perfekter Zeitpunkt, um die eigene Zeit neu zu bewerten. Zeit muss nicht immer effizient gestaltet und genutzt werden. Wir sollten lernen, uns zu entschleunigen, unsere Zeitkiller zu erkennen und am besten nicht mehr in unsere alten Muster von vor Corona zu verfallen."
Über die Expertin:
- Elke Großer ist Soziologin und Zeitforscherin, Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik und in der Redaktion des Zeitpolitischen Magazins.
Quellen:
- Ruth S. Ogden: The passage of time during the UK Covid-19 lockdown
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