Der Seeadler hatte es in Deutschland nicht immer leicht. Seit Jahren ist er aber wieder im Aufwind. Den Menschen nötigt er seit Jahrhunderten Respekt ab. In der Vogelwelt sorgt er verlässlich für Panik.
Der König verbirgt sich noch hinter einer Nebelwand. Aber er muss in der Nähe sein. Noch bevor man ihn sieht, macht er sich bemerkbar. Durch die Unruhe, die er verursacht. Panik erfasst eine Schar von Bläss- und Graugänsen, laut rufend fliegen sie auf. Alles, was Flügel hat, versucht, sich in Sicherheit zu bringen.
Kurz danach wird der Herrscher – oder ist es eine Herrscherin? – auch für das menschliche Auge sichtbar. Mit weiten, langsamen Flügelschlägen fliegt er über das Oderbruch. Dann lässt er sich auf einem abgestorbenen Baum nieder und überblickt mit kalter Ruhe die wintergraue Flusslandschaft. Es ist nicht der erste Seeadler, den ich durchs Fernglas sehe. Aber der Anblick ist immer wieder beeindruckend.
Seit Jahrhunderten ein Symbol des Staates
Der König der Lüfte, der Herrscher des Himmels: Der Adler fasziniert Menschen überall auf der Welt. Auch mir nötigt er Respekt ab, wie er jetzt dort sitzt. Die Krallen umklammern den toten Ast, der stechende Blick sucht die Ferne ab. Die Unruhe der Gänse scheint an ihm abzuperlen.
Nicht nur Deutschland, auch Österreich hat den Adler zu seinem Wappentier gemacht. Auf der Webseite des deutschen Bundesinnenministeriums ist nachzulesen, der Greifvogel sei eines der ältesten Staatssymbole der Welt. Schon die römischen Kaiser verwendeten ihn als Herrschaftszeichen, später auch die fränkischen Herrscher, das Deutsche Reich, die Weimarer Republik und schließlich die Bundesrepublik. Der Adler symbolisiert Ruhe und Lebenskraft, galt sogar als Gesandter Gottes.
Kleine Adler-Kunde
- Der Seeadler ist mit bis zu 2,5 Metern Flügelspannweite die größte, aber nur eine von insgesamt vier Adler-Arten in Deutschland. Der Bundesadler als Wappenvogel wird übrigens keiner genauen Art zugeordnet.
- Steinadler: Mächtiger Greifvogel des Gebirges, mit dunklem Gefieder und langen Flügeln, im Schnitt nur unwesentlich kleiner als der Seeadler. Wenige Paare brüten in den deutschen Alpen.
- Schreiadler: Etwas kleinerer Adler, der nur in manchen Gegenden Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns brütet und eine ungewöhnliche Jagdweise hat: Er schreitet über den Boden und sucht nach Fröschen, Mäusen, Insekten oder Schlangen.
- Fischadler: Geschickter Jäger mit markantem weiß-schwarzbraunen Gefieder. Lebt vor allem im Nordosten und in Bayern, wo er Fische im Sturzflug erbeutet.
Ein Erfolg des Naturschutzes
Die Deutschen haben ihren Wappenvogel allerdings lange nicht besonders gut behandelt. Vom Seeadler zum Beispiel gab es um das Jahr 1900 im damaligen Kaiserreich nur noch ein Dutzend Brutpaare. Als Fisch- und Vogeldieb hatten die Menschen ihn bejagt. Eine Zeit lang ging es dann wieder aufwärts für ihn – bis ihm in der Nachkriegszeit ein Gift zusetzte.
In den 1950er-Jahren trat das Insektizid DDT einen kurzen grausamen Siegeszug an: Das Gift sollte in der Land- und Forstwirtschaft Schädlinge töten, aber es sammelte sich auch in den Körpern von Greifvögeln an, ließ die Schalen ihrer Eier dünn und brüchig werden. Generationen von Küken starben schon, bevor sie sich aus dem Ei kämpfen konnten.
In den USA prangerte die Biologin Rachel Carson den Gifteinsatz in ihrem Buch "Silent Spring" (Der stumme Frühling) an, ein Grundstein der Umweltbewegung. In den 70er-Jahren wurde DDT dann sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR verboten. Und der Seeadler dankte es den Menschen.
Die Bestände sind seitdem deutlich gewachsen, auch weil Moore vernässt wurden, Flüsse wieder ihrem Lauf folgen können. Heute soll es in Deutschland rund 850 Seeadler-Brutpaare geben.
Ein Adlerpaar bleibt meist das ganze Leben zusammen. Schon im Winter beginnen die zukünftigen Eltern mit der Balz, wenn sie gemeinsam rufen oder in Flugmanövern nach den Füßen des Partners greifen. Ende Februar, Anfang März legt das Weibchen dann ein bis drei Eier. Die Hauptarbeit bei der Brut und beim Bewachen der Küken übernimmt das Weibchen; das Männchen schafft das Futter herbei.
Mit den Jahren verändert der Seeadler deutlich sein Aussehen. In jungen Jahren sind Schnabel, Augen und Gefieder dunkel, mit der Zeit werden vor allem der Kopf und die Schwanzfedern heller. Der mächtige Schnabel wird gelb. Mit zum Teil deutlich über 30 Jahren erreichen viele Seeadler ein hohes Alter.
Auch Aas steht auf dem Speiseplan
Auch wenn der Herrscher verlässlich für Panik in seinem Reich sorgt: Er bringt nicht jedes Mal den Tod. Seeadler erbeuten große Fische dicht unter der Wasseroberfläche, sie sind auch in der Lage, Gänse im Flug zu schlagen. Oft jagen sie aber ohne Erfolg. Manchmal macht Seine Majestät es sich daher auch ganz einfach – und sammelt tote Tiere von der Wasseroberfläche oder vom Feld auf.
Wenn Sie im Süden oder Westen der Republik wohnen, sind die Chancen auf ein Aufeinandertreffen leider klein. Seeadler leben hauptsächlich im Norden und Osten, dort, wo es große Gewässer zur Jagd und hohe Bäume für den Adlerhorst gibt. Wer also zum Beispiel an der Oder, an der Mecklenburger Seenplatte oder der Ostseeküste lebt oder dort Urlaub macht, sollte die Augen offenhalten. Wenn sich plötzlich scharenweise alles Gefiederte in die Flucht stürzt, liegt das vielleicht nicht an Ihnen. Sondern an einem König, der ganz in der Nähe seinen Auftritt vorbereitet.
Verwendete Quellen
- bmi.bund.de: Staatssymbole in Deutschland https://www.bmi.bund.de/DE/themen/verfassung/staatliche-symbole/staatssymbole/staatssymbole-node.html
- Daniel Schmidt-Rothmund, Winfried Nachtigall, Theodor Mebs: Die Greifvögel Europas, Kosmos-Verlag
- Dachverband Deutscher Avifaunisten: Atlas Deutscher Brutvogelarten
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