Unser Geschlecht beeinflusst, wie wir krank werden. Aber erst an zwei Medizin-Fakultäten in Deutschland wird das systematisch gelehrt. Eine Initiative angehender Ärztinnen und Ärzte will das ändern – einen Professor hat sie schon zum Umdenken gebracht.

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In den ersten zwei Semestern seines Medizinstudiums lernte Sebastian Paschen, wie sich die Zähne eines Menschen entwickeln, worin sich Lipide von Nukleinsäuren unterscheiden und wie man das Enzym Succinat-Dehydrogenase in der Leber einer Ratte nachweist.

Zu den Dingen, die in keiner Vorlesung und keinem Seminar auftauchten, gehörten Tatsachen wie diese: Die Geschlechtshormone eines Menschen beeinflussen sein Immunsystem. Die Forschungspraxis der vergangenen Jahrzehnte hat dazu geführt, dass viele Medikamente bei Frauen schlechter wirken oder stärkere Nebenwirkungen haben als bei Männern. Herzinfarkte können sich je nach Geschlecht unterschiedlich äußern, und Frauen überleben sie seltener als Männer.

Von all diesen Dingen hörte Sebastian Paschen zum ersten Mal in einem von Studierenden organisierten Onlineworkshop, so erinnert er sich heute. Und er hörte dort noch etwas: dass solche Themen an kaum einer Medizin-Fakultät in Deutschland systematisch gelehrt werden. "Das fand ich erschreckend, ich wollte gar nicht glauben, dass es hier in Greifswald auch so ist", sagt Paschen, inzwischen im achten Semester. "Aber es stimmt. Man lernt alles am Beispiel des männlichen Patienten – der dient als Schema F für jede Person, die einem später einmal gegenübersitzt."

Geschlechtersensible Medizin: nur an zwei Medizin-Fakultäten in Deutschland fester Teil des Lehrplans

Es ist nicht so, dass Paschen und seine Kommilitoninnen und Kommilitonen zu wenig Stoff zu lernen hätten. Der Lehrplan im Medizinstudium ist voll, in vielen Bereichen finden nur die Grundlagen Platz, der Rest soll in der Facharztausbildung gelehrt werden. Geschlechterunterschiede aber ziehen sich durch alle Bereiche der Medizin, ein Bewusstsein dafür ist somit für angehende Ärztinnen und Ärzte aller Fachrichtungen relevant, das sagt nicht nur Paschen.

Im Jahr 2019 schickte ein Team um die Gendermedizinerinnen Ute Seeland und Gabriele Kaczmarczyk eine Umfrage an die Studiendekaninnen und Studiendekane der damals noch 41 Medizin-Fakultäten in Deutschland. Von den 31, die antworteten, gaben fast alle an, geschlechterspezifische Inhalte seien für die berufliche Tätigkeit als Ärztin oder Arzt "wichtig" oder "eher wichtig". Aber nur knapp 30 Prozent erklärten, in ihren Lehrplänen seien solche Inhalte in mehr als nur "einzelne" Lehrveranstaltungen integriert. Und nur an 40 Prozent der antwortenden Fakultäten konnten interessierte Studierende zumindest ein Wahlfach zum Thema belegen.

Systematisch und für alle verpflichtend ins Medizinstudium eingebettet ist das Geschlecht aktuell an zwei Hochschulen: an der Charité in Berlin, wo man 2010 im Rahmen eines Modellstudiengangs einen ganz neuen Lehrplan eingeführt hat. Und an der Uni Bielefeld, deren Medizin-Fakultät erst 2021 gegründet wurde.

Der Begriff "Gendermedizin" ist irreführend

Meist wird das Fach, das sich mit geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Medizin beschäftigt, als Gendermedizin bezeichnet. Der Name ist allerdings irreführend. Es geht nämlich nicht nur um das soziale Geschlecht (gender) – also etwa darum, dass die Schmerzen von als Frauen wahrgenommenen Menschen weniger ernst genommen und häufiger als psychisch bedingt eingestuft werden – sondern ebenso um biologische Faktoren (sex). Treffender sind daher die Begriffe "Geschlechtsspezifische Medizin" oder "Geschlechtersensible Medizin".

An Paschens Uni in Greifswald und an vielen anderen hingegen hängt es vor allem von den Dozierenden ab, ob Medizinstudierende etwas über die Relevanz des Geschlechts für die Diagnose und Behandlung von Krankheiten lernen. Wer sich nicht von sich aus dafür interessiert, kann mitunter ein ganzes Medizinstudium absolvieren und in den Beruf starten, ohne je darauf aufmerksam gemacht worden zu sein. "Viele verbinden mit geschlechtsspezifischer Medizin eine Frauenmedizin oder eine bessere Gynäkologie oder so", sagt Sebastian Paschen. Darum gehe es aber nicht – sondern um die Gleichstellung aller Geschlechter in der Medizin.

Und um diese Gleichstellung, findet Paschen, sollten sich auch Männer bemühen. Schon allein aus eigenem Interesse: "Es gibt ja vereinzelt auch Bereiche, wo Männer die schlechteren Karten haben, bei der Erkennung von Depressionen oder Osteoporose zum Beispiel."

Online-Seminare, Ringvorlesung – aber fürs Studium angerechnet wird nichts

Ende 2021 nahmen Paschen, 22, und sein Partner und Kommilitone Moritz Roloff, 26, die Sache also selbst in die Hand: Sie gründeten gemeinsam mit einer weiteren Kommilitonin in Greifswald die Initiative "Geschlecht in der Medizin" und schlugen der Bundesvertretung der Medizinstudierenden ein gleichnamiges bundesweites Projekt vor, das im Mai 2022 startete. Inzwischen gebe es auch in Heidelberg, Erlangen, Witten und Regensburg Lokalgruppen, erzählt Paschen.

Er und sein Team brachten mehrere Veranstaltungen in Gang. Sie gaben den Anstoß für eine monatliche Online-Seminarreihe im Hartmannbund, einem Berufsverband für Ärztinnen und Ärzte. In Greifswald organisierten sie im vergangenen Wintersemester mit Unterstützung zweier schon lange mit dem Thema befasster Dozentinnen eine Ringvorlesung, die für Interessierte in ganz Deutschland gestreamt wurde und künftig jedes Jahr stattfinden soll.

All diese Projekte haben allerdings das übliche Problem: Sie sind nicht Teil des Studiums. Studierende können sie in ihrer Freizeit besuchen, bekommen sie aber nicht angerechnet. Um wirklich alle angehenden Ärztinnen und Ärzte zu erreichen, muss das Thema in die Lehrpläne: Darin ist sich Sebastian Paschen mit etablierten Gendermedizinerinnen und Gendermedizinern einig.

"Oh, da kommt wieder die Gender-Lady"

Sabine Oertelt-Prigione etwa beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren mit dem Thema, 2021 berief die neu gegründete Bielefelder Medizin-Fakultät sie zu Deutschlands erster Professorin für geschlechtersensible Medizin. "Ein Medizinstudium, das den Einfluss des biologischen und sozialen Geschlechts auf die Gesundheit ignoriert, ist nicht mehr zeitgemäß", sagt sie. Damit Ärztinnen und Ärzte später alle Patientinnen und Patienten gut versorgen können, müssten sie schon während des Studiums mit dem Thema konfrontiert werden – und zwar nicht nur abstrakt in eigenen Vorlesungen, sondern in allen Fächern. "Wenn immer nur ich den Studierenden etwas dazu erzähle, dann denken die: 'Oh, da kommt wieder die Gender-Lady'. Wenn die Onkologin in ihrer Vorlesung zum Lungenkrebs das Thema aufgreift und ihre Daten geschlechtsgetrennt präsentiert, ist das viel wirksamer."

Außerdem müssten Geschlechteraspekte prüfungsrelevant werden: "Die Studierenden haben wahnsinnig viel zu lernen, natürlich werden da Prioritäten gesetzt. Mit der Entscheidung, was wir prüfen, geben wir diese Prioritäten vor."

Der Koalitionsvertrag der Ampel verspricht Verbesserungen

Es gebe sicher Lehrende, die solche Forderungen kritisch sähen, sagt Sebastian Paschen. "Die sagen das nicht so, sondern antworten einfach nicht auf unsere Mails. Aber das sind vielleicht zehn Prozent." Auch in der Politik hat die jahrelange Überzeugungsarbeit von Gendermedizinerinnen und Gendermedizinern gefruchtet: Im Koalitionsvertrag der Ampel steht, man werde "geschlechtsbezogene Unterschiede in der Versorgung, bei Gesundheitsförderung und Prävention und in der Forschung berücksichtigen", und: "Die Gendermedizin wird Teil des Medizinstudiums, der Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe werden."

Der Weg dahin führt über zwei komplizierte Akronyme: über den NKLM, den Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin, der Fachleuten zufolge schon viele geschlechtersensible Lehrziele enthält, den die Unis derzeit aber noch nicht berücksichtigen müssen. Und über die ÄApprO, die Approbationsordnung, die die Zulassung von Ärztinnen und Ärzte regelt und derzeit reformiert wird – der aktuelle Entwurf beinhaltet auch Geschlechteraspekte.

Bis beides gilt, wird es aber noch dauern. "Ich glaube, mich wird es nicht mehr betreffen, ich werde in etwa drei Jahren fertig sein mit dem Studium", sagt Sebastian Paschen. "Aber ich hoffe, danach wird es losgehen."

Die Ringvorlesung zu Geschlechtsspezifischer Medizin soll Wahlfach werden

Seine Greifswalder Initiative versucht derweil, ihre Ringvorlesung zu einem Wahlfach zu machen – damit sie sich zumindest am Thema interessierte Studierende fürs Studium anrechnen lassen können. Im ersten Anlauf scheiterte der entsprechende Antrag im zuständigen Gremium, der Lehrkommission, am zu knappen Zeitplan. "In der Lehrkommission ist das wie in der Politik", sagt Sylvia Stracke, Leiterin des Bereichs Nierenheilkunde an der Uni Greifswald und eine von Paschens Unterstützerinnen in der Professorinnen- und Professorenschaft. "Man muss so einen Antrag gut vorbereiten und vorab Gespräche führen, damit man eventuelle Lücken oder Mängel noch vor der Sitzung beheben kann. Sonst kommen die in der Sitzung zur Sprache und werden zum Problem. Das haben die Studierenden unterschätzt."

Dass ein Antrag in der Lehrkommission beim ersten Versuch abgelehnt werde, sei allerdings nicht ungewöhnlich, sagt Stracke. Generell habe die Studierendenvertretung dort durchaus Einfluss. Sie rechne damit, dass der Antrag beim nächsten Versuch durchgeht und dass es in Greifswald schon im kommenden Wintersemester ein Wahlfach zu Geschlecht in der Medizin geben wird. Sebastian Paschen und sein Partner, die beiden treibenden Kräfte hinter dem Projekt, werden dann allerdings im Ausland sein. "Wir beide können es fürs nächste Semester nicht organisieren", sagt er, "ich hoffe, dass wir eine Nachfolge finden, die das übernimmt."

Den Pharmakologie-Professor hat die Initiative schon überzeugt

Sylvia Stracke hat sich jedenfalls über die Initiative der Studierenden gefreut. "Wenn nur ich und ein paar Kolleginnen uns dafür einsetzen, heißt es schnell, wir wollten den Studierenden etwas überstülpen", sagt sie. "Da hilft es, wenn Studierende das Gleiche fordern." Vor allem dann, wenn sie sich mit gleich gesinnten Professorinnen und Professoren verbündeten.

Dass Paschen und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter auch kurzfristig etwas bewirken können, zeigt derweil das Beispiel von Stefan Engeli, dem Leiter der Abteilung für Klinische Pharmakologie an der Uni Greifswald. Er eröffnet das Videotelefonat mit einem Disclaimer: "Ich fühle mich nicht als Experte auf dem Gebiet der geschlechtsspezifischen Medizin. Ich arbeite mich gerade erst ein."

Engeli hat Biologie und Medizin studiert und ist seit 14 Jahren habilitiert – "aber über geschlechtsspezifische Unterschiede habe ich nie nachgedacht, bis mich die Studierendengruppe gefragt hat, ob ich mal einen Vortrag dazu halten könnte", sagt er. Im Nachhinein sei er davon selbst überrascht: "Es ist ja eigentlich sehr naheliegend."

Abgelehnt habe er die Beschäftigung mit dem Thema nie, sagt Engeli; er habe auch gewusst, dass es etwa bei Herzinfarkten Geschlechterunterschiede gibt. "Aber ich dachte, das hat mit meinem Fach, der Arzneimittelforschung, nichts zu tun. Dass man bei Frauen zum Beispiel bei manchen Medikamenten schon mit deutlich niedrigeren Dosierungen als bei Männern den maximalen Effekt erreichen kann, war mir nicht bewusst."

Erst nachdem Sebastian Paschen und seine Kommilitoninnen und Kommilitonen ihn auf das Thema gestoßen hätten, habe er zu recherchieren begonnen, sagt Engeli – und seine Erkenntnisse auch gleich in seine Vorlesungen und Prüfungen eingebaut.

Verwendete Quellen:

  • Bundesministerium für Gesundheit: Aktueller Stand der Integration von Aspekten der Geschlechtersensibilität und des Geschlechterwissens in Rahmenlehr- und Ausbildungsrahmenpläne, Ausbildungs-konzepte, curricula und Lernzielkataloge für Beschäftigte im Gesundheitswesen (Mai 2020)
  • Fachschaftsrat Medizin, Universität Greifswald: Geschlecht in der Medizin
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