- Jedes Jahr infizieren sich Zehntausende Menschen in Deutschland mit resistenten Bakterien.
- Wie ein Fall in Belgien zeigt, können bei Behandlungen spezialisierte Viren helfen.
- Ein vollständiger Ersatz für Antibiotika sind diese Experten zufolge allerdings nicht.
Jedes Jahr sterben weltweit mindestens 700.000 Menschen an Infektionen durch multiresistente Bakterien, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet. Auf der Suche nach Alternativen zu Antibiotika entdecken Mediziner ein bekanntes Heilmittel neu: Bakteriophagen.
Dass die bakterienfressenden Viren helfen könnten, wenn Antibiotika versagen, beschreiben belgische Mediziner im Fachblatt "Nature Communications". Auch ein deutscher Experte sieht in der Phagentherapie großes Potenzial.
670.000 Menschen in Europa erkranken jährlich an multiresistenten Erregern
2019 schlug die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Alarm: Bis 2050 könnten weltweit bis zu zehn Millionen Menschen pro Jahr an Infektionen mit Bakterien sterben, gegen die gängige Antibiotika machtlos seien. Schon jetzt erkranken laut dem Europäischen Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) jedes Jahr etwa 670.000 Menschen in Europa an Infektionen durch multiresistente Erreger, in Deutschland sind es knapp 55.000.
Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) entfallen bis zu 35.000 davon auf Infektionen, die sich Patienten in Krankenhäusern oder bei ambulanten Behandlungen zuziehen. Zu den besonders gefürchteten Verursachern gehört Klebsiella pneumoniae: Der Keim kann bei Patienten etwa Harnwegsinfektionen, Lungenentzündungen und Blutvergiftungen verursachen.
Mit diesem Bakterium hatte sich auch jene Patientin infiziert, von der das Team um die Ärztin Anaïs Eskenazi in "Nature Communications" berichtet: Die 30-Jährige war ein Opfer des Terroranschlags am Brüsseler Flughafen im März 2016. Bei einer Notoperation wurde ihr ein Teil des Beckenknochens entfernt und ein gebrochener Oberschenkel extern fixiert.
Bakterien platzen mit der Zeit
Trotz Antibiotika entwickelte sie vier Tage später einen septischen Schock, den die Ärzte auf eine Infektion mit verschiedenen Bakterien zurückführten, darunter Klebsiella pneumoniae. Da die Ärzte die Infektion über Monate nicht in den Griff bekamen, entschieden sie sich für eine Therapie mit Bakteriophagen.
Diese spezialisierte Viren dringen in Bakterien ein und sorgen dafür, dass diese selbst Phagen herstellen – bis sie platzen. Die freigesetzten Phagen heften sich wieder an andere Bakterien. "Auf diese Weise habe ich ein im Prinzip sich selbst dosierendes Antiinfektivum, das nur so lange wirkt, so lange Bakterien da sind", erläutert Holger Ziehr vom Fraunhofer-Institut für Toxikologie und experimentelle Medizin (ITEM) in Braunschweig.
Der Mikrobiologe betont die potenziell gute Verträglichkeit von Phagen – gerade im Vergleich zu Antibiotika - und ihre Spezialisierung auf bestimmte Bakterien nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip.
Bakterien müssen genau identifiziert werden
Denn tatsächlich sind Bakteriophagen jeweils auf eine Bakterienart oder gar auf einzelne Stämme einer Art spezialisiert. Das bietet den Vorteil, dass sie nur diese bestimmten Bakterien angreifen. Es bedeutet andererseits aber auch, dass Bakterien genau identifiziert werden müssen, um die richtigen Phagen auszuwählen.
Auf diese Typisierung spezialisiert ist das Georgi-Eliava-Institut in Georgien, an dem bereits seit 1923 geforscht wird. Während des Kalten Krieges waren hier wie in der gesamten Sowjetunion Antibiotika Mangelware, so dass Bakteriophagen eine effektive Alternative boten. In der Folge entwickelte sich das Institut zum globalen Zentrum der Phagentherapie. Auch die Autoren der Fallstudie wandten sich nach Tiflis, um therapeutische Phagen auszuwählen und an die Patientin anzupassen.
Fast zwei Jahre nach dem Attentat erhielt diese nach einer weiteren Operation eine Kombination aus Antibiotika und angepassten Phagen, die in einer Flüssigkeit durch einen Katheter in die Operationswunde geleitet wurden. Drei Monate später hatte sich ihr Zustand deutlich gebessert.
Phagen sind kein vollständiger Ersatz für Antibiotika
"Zum Zeitpunkt dieses Berichts, drei Jahre nach der Behandlung mit der Phagen-Antibiotika-Kombination, ist die Patientin wieder gehfähig und mobil, in der Regel mit Hilfe von Krücken, und nimmt an sportlichen Aktivitäten teil (z.B. Radfahren)", schreiben die Mediziner. Es gebe keine Anzeichen mehr für eine Infektion mit K. pneumoniae.
Für Ziehr, der nicht an der Studie beteiligt war, ist das ein Beispiel für eine mögliche künftige Nutzung von Phagen: "Diese sollten immer da zum Einsatz kommen, wo man mit Antibiotika nicht mehr weiterkommt." Als vollständigen Ersatz für Antibiotika sieht er Phagen nicht: "Es wird immer ein Nebeneinander beider Behandlungen geben."
Phagen-Therapie in Deutschland nur eingeschränkt möglich
Zudem sei die Herstellung therapeutischer Phagen aufgrund ihrer komplexen Struktur und Spezialisierung eine Herausforderung. In Deutschland gibt es bislang keine zugelassenen Phagen-Medikamente, eine Phagen-Therapie ist wie in fast allen westeuropäischen Ländern nur eingeschränkt möglich.
Ziehr arbeitet in verschiedenen Projekten zum einen am Einsatz der Bakterienfresser für Heilversuche, zum anderen an der Entwicklung von Phagen als klassische Arzneimittel. Das Projekt "Phage4Cure" entwickelt einen inhalierbaren Wirkstoff aus Phagen gegen das Bakterium Pseudomonas aeruginosa, das bei Menschen mit der Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose Lungenentzündungen verursacht. Eine klinische Prüfung soll ab Sommer starten – es wäre die erste in Deutschland. (ff/dpa)
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