Eine kurdisch-arabische Koalition macht in Nordsyrien weiter Boden gegen den sogenannten Islamischen Staat gut. Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gefällt das überhaupt nicht. Er fürchtet nichts mehr als einen kurdischen Staat an der Südflanke der Türkei, sagt der Fotojournalist Roman Geißler.

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Der Fotojournalist Roman Geißler, der in Wahrheit einen anderen Namen trägt, kennt die Situation in den Kurdengebieten aus eigener Erfahrung. Geißler ist seit 2014 siebenmal in die Südosttürkei und nach Nordsyrien geflogen, er hat unter anderem über die Befreiung Kobanes berichtet. Weil er seine nächste Reise in die Türkei durch kritische Äußerungen nicht gefährden möchte und Drohungen fürchtet, hat die Redaktion seinen Namen anonymisiert.

Die gegenwärtige Lage für Journalisten in der Türkei ließ ihm keine andere Wahl. Geißler sagt, er wolle aber schon bald in das Land zurückkehren.

Die nordsyrische Stadt Manbidsch wurde vor wenigen Tagen von einer kurdisch-arabischen Koalition, den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF), unter Unterstützung von US-Luftangriffen dem IS entrissen. Warum sorgt das beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan für Aufregung?

Geißler: Die Türkei will unbedingt verhindern, dass an ihrer Südgrenze ein zusammenhängendes kurdisches Gebiet entsteht. Bisher hält die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) dort noch einen Streifen besetzt, der die kurdischen Kantone Afrin und Kobane voneinander trennt.

Was befürchtet die Türkei konkret?

Den bewaffneten Kampf in Syrien führt die YPG, ein Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die von der Türkei, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Die Türkei befürchtet, dass das politische Selbstbewusstsein der Kurden dann auch in der Türkei enorm ansteigen und der Wunsch nach Unabhängigkeit wieder anwachsen könnte. Erdogan hat in den letzten Monaten zahlreiche Bürgermeister der Kurdenpartei HDP im Südosten des Landes absetzen lassen, Armee und Sicherheitskräfte sind in vielen Städten brutal gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen. Das war ein Bürgerkrieg gegen die Kurden unter dem Vorwand, man gehe gegen Terroristen vor.

Aber es gab doch auch Morde an Polizisten und Soldaten sowie mehrere blutige Anschläge durch die PKK und Splittergruppen

Ja, das ist richtig. Deswegen haben die türkischen Sicherheitskräfte trotzdem nicht das Recht, willkürlich gegen die Zivilbevölkerung und andere Unschuldige vorgehen. Ich habe selbst erlebt, wie Scharfschützen auf Zivilisten geschossen haben, die sich während der Ausgangssperre vor die Häuser gewagt haben. Auch auf Frauen und Kinder.

Sie waren zuletzt mehrfach in den türkischen Kurdengebieten als Fotograf unterwegs. Wie ist dort die Arbeit als Journalist?

Sehr schwierig. Man muss sehr wachsam sein und aufpassen, mit wem man spricht. Reporter bekommen für die Regionen keine offizielle Akkreditierung mehr. Ich musste sozusagen illegal, also ohne offizielle Erlaubnis, arbeiten. Zudem lebt man ständig in der Gefahr, entdeckt und verhaftet zu werden. Deutsche Journalisten genießen durch ihren Ausweis nach einer Verhaftung noch einen gewissen Schutz, aber als türkischer oder kurdischer Reporter kann das lebensgefährlich sein. Dort sollen schon Menschen verschwunden sein - für immer.

Haben Sie selbst brenzlige Situationen erlebt?

Ja, ich geriet in Nusaybin in eine Kontrolle durch eine paramilitärische Spezialeinheit. Die Befragung war sehr aggressiv. Meine Begleiter und ich mussten uns mit erhobenen Händen an eine Wand stellen, uns wurden die Läufe der Maschinengewehre in den Bauch gedrückt. Ich hatte große Angst. Denn die Männer in den Spezialeinheiten sind oft abgestumpft und skrupellos. Das sind wirklich harte Typen. Nach einigem Diskutieren ließen sie dann glücklicherweise von uns ab.

Werden Sie wieder in die Türkei zurückkehren?

Ich hoffe, so bald wie möglich.

Warum ist es wichtig, von dort zu berichten?

Wir müssen dokumentieren, was in den Kurdengebieten passiert. Dort werden Verbrechen verübt. Das sind nicht alles Terrorristen, gegen die dort vorgegangen wird, auch wenn die türkische Regierung das immer wieder behauptet. Ich habe ja mit eigenen Augen das Gegenteil gesehen.

Wie schätzen sie die Chancen auf einen unabhängigen, kurdischen Staat ein?

In Syrien gibt es ja praktisch schon ein Kleinkurdistan mit eigenen Verwaltungsstrukturen. Auch im Nordirak existiert eine autonome kurdische Region. Aber von Bestrebungen nach einem großen zusammenhängenden Staat haben sich die Kurden schon länger verabschiedet. In der Türkei geht es den meisten Kurden lediglich um mehr politische Mitbestimmung und Gleichberechtigung. Die aktuelle politische Entwicklung macht dort aber wenig Hoffnung, nachdem Erdogan anfangs noch eine offenere Kurdenpolitik eingeleitet hatte.

Was passiert, wenn die Kurden in Syrien weiter vorrücken und dem IS Land abnehmen?

Die Türkei wird alles tun, was in ihrer Macht steht, um dort ein zusammenhängendes Staatsgebilde in Nordsyrien zu verhindern. Notfalls mit militärischen Mitteln. Es werden ja schon länger YPG-Stellungen bombardiert sowie Dschihadisten-Gruppierungen wie der IS indirekt oder direkt unterstützt.

Ist diese Unterstützung denn gesichert? Erdogan bezeichnet den IS öffentlich als Feind.

Beim Schmuggel von Kämpfern, Waffen, Lebensmitteln und Verbandsmaterial an den IS und andere dschihadistische Rebellen sollen türkische Grenzer lange ein Auge zugedrückt haben. Außerdem werden verwundete IS-Kämpfer angeblich in türkischen Krankenhäusern behandelt. Auch eine aktuelle Einschätzung des Innenministeriums kommt zu dem Ergebnis, dass die Türken radikale Islamisten im Nahen und Mittleren Osten seit Jahren aktiv unterstützen.

Wie groß ist das Interesse Erdogans an einer Schwächung des IS?

Einerseits verübt die Terrormiliz Anschläge in der Türkei, andererseits wäre eine Niederlage der Dschihadisten für Erdogan schlecht, weil der IS eine Versicherung gegen ein zusammenhängendes Kurdengebiet in Nordsyrien ist und seinen Feind Baschar al-Assad bekämpft.

Der türkische Präsident hat aber auch ethnische Säuberungen durch Kurden in zurückeroberten arabischen Ortschaften in Nordsyrien angeprangert.

Amnesty International hat dokumentiert, dass einzelne YPG-Einheiten in Dörfern der dortigen Bevölkerung pauschal eine Kollaboration mit dem IS unterstellt und sie vertrieben haben. Aber laut meinen Informationen sollen die Verantwortlichen bestraft worden sein. Die YPG duldet solch ein Verhalten nicht. Sie ist eine multiethnische Truppe, in ihr kämpfen auch Araber und Angehörige syrischer Minderheiten. Im Krieg gibt es leider keine Seite, die sich nicht die Hände schmutzig macht.

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