Er bestätigt alle Gegner eines türkischen EU-Beitritts in ihren Vorbehalten. Das Verhalten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan erscheint in der Satire-Affäre um Jan Böhmermann irrational und befremdlich. Einen Sinn ergibt sein Handeln nur, wenn man es aus einer psychologisch-historischen Perspektive zu verstehen versucht.

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Dass es so etwas wie ein kollektives Gedächtnis gibt, ist eine weit verbreitete Annahme in der Geschichtswissenschaft. Prägende Ereignisse in der Historie einer Nation können demnach auch diejenigen in der Gegenwart beeinflussen, die zu jung sind, um sie in der Vergangenheit selbst erlebt zu haben.

Erdogans Verhalten wird mit der Vergangenheit erklärbar

So wird etwa bisweilen die kollektive Sehnsucht der Deutschen nach Ordnung und die Unlust an echten Revolutionen mit den verheerenden Erfahrungen des 30-jährigen Krieges erklärt, die deutsche Aversion gegen nationalistische Strömungen mit den Wunden, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat.

Auch in der Türkei gibt es solch ein kollektives Gedächtnis, das vieles von dem, was wir heute erleben, aus der Vergangenheit erklärbar macht - auch den Erfolg eines Recep Tayyip Erdogan.

Identitätsbildend im negativen Sinne war für die türkische Nation der Zerfall des Osmanischen Reiches, der über anderthalb Jahrhunderte andauerte und von den vergeblichen Versuchen der damaligen Herrscher begleitet wurde, Reformen nach europäischem Vorbild durchzuführen.

Entstanden sei schon damals eine "charakteristische Mischung aus Verfolgungswahn, Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex", schreibt Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der "Welt", in einem ausführlichen Kommentar zu Erdogan.

Eine gefährliche Gefühlslage, die sich spätestens mit dem Vertrag von Sèvres, in dem die Sieger des Ersten Weltkriegs die Aufteilung des Osmanischen Reiches beschlossen, zu einer veritablen Neurose verhärtet habe.

Yücel erwähnt das Sèvres-Syndrom, in welchem die Annahme transportiert werde, "dass fremde Mächte die Türkei vernichten wollen".

Nach dieser Theorie hat sich die Psychose inzwischen zu einer Art Common Sense in großen Teilen der türkischen Bevölkerung entwickelt. Und Erdogan ist die fatale Antwort auf dieses diffuse Gefühl.

Den 62-Jährigen, der aus einfachen Verhältnissen stammt, treibt laut Yücel ein "unbändiger Ehrgeiz, nicht nur als bedeutendster türkischer Politiker mindestens seit Atatürk in die Geschichte einzugehen, sondern auch als Anführer der islamischen Welt oder gleich aller 'Verdammten dieser Erde' ".

Sehnsucht nach Allmacht trifft auf Verlustangst

Die Sehnsucht nach Allmacht verbinde sich bei Erdogan mit einer fatalen Verlustangst. Der türkische Staatspräsident sitze "vor Angst zerfressen in seinem Protzpalast" und fürchte beständig, "alles wieder zu verlieren".

Schon einmal war Erdogan 1998 zu einem lebenslangen Politikverbot verurteilt worden, nachdem das türkische Verfassungsgericht seine damalige "Wohlfahrtspartei" verboten hatte.

Erdogan war Sympathie mit dem Dschihad vorgeworfen worden sowie die Planung der Einführung der Scharia. Die Erfahrung des politischen Verbots habe ihn tief geprägt, glaubt Yücel.

Seine eigene Angst vor dem Abstieg und eine Art kollektiver Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen zeigten sich nach dieser Lesart auf fatale Weise in der Person Erdogan, einem Menschen, der laut Yücel diese Gemengelage in zwei besonders ungute Charaktereigenschaften verwandelt.

"Eitelkeit und Rachsucht" seien die beiden maßgeblichen psychischen Dispositionen, mit denen Erdogan den Staat regiere, glaubt der Experte. Dies sei aber gleichsam auch Teil seines Erfolgskonzeptes.

Denn die eigene Großmannssucht verwandele er gemeinsam mit seiner Regierung in Taten, wie etwa "die dritte Bosporus-Brücke, der größte Flughafen der Welt, die größte Moschee der Welt, Shoppingmalls, Wohnsiedlungen und Straßen, Straßen, Straßen".

Der Aktionismus verhelfe ihm immer wieder zu großen Erfolgen an den Urnen, weil viele Wähler meinten, Erdogan sei zwar korrupt, bewirke aber wenigstens etwas.

Erdogan mobilisiert Mehrheiten hinter sich

Fakt ist: Im Gegensatz zu anderen absolutistischen Führern weiß Erdogan tatsächlich die Mehrheit der türkischen Bevölkerung hinter sich. Immer wieder betont er, wie wichtig ihm diese Unterstützung durch das Volk sei.

Man könnte vermuten, dass Erdogan genau deshalb so allergisch auf Kritik aller Art reagiert. Für ihn erscheint jede Form der Majestätsbeleidigung als eine Beleidigung des türkischen Volkes.

Zusammen mit den historischen Demütigungen der Vergangenheit kann die Antwort auf Beleidigungen nur eine konfrontative Abwehrreaktion sein. Niemals wieder soll sich die Türkei in einer unterlegenen Position gegenüber ihren Feinden wähnen.

Und da Erdogan in der eigenen Lesart die Türkei repräsentiert, richtet sich sein Zorn auch gegen seine innenpolitischen Gegner.

Erdogan wähnt sich aus seiner Perspektive heraus im Recht, wenn er Pressevertreter inhaftieren lässt, regierungskritischen Sendern den Strom abdreht und seinen Kontrollzwang auf immer neue Bereiche von Staat und Gesellschaft ausweitet.

Wenn es nur die Wahl zwischen den Mitstreitern für eine glorreiche Zukunft und den alten Feinden der Türkei gibt, dann kann es kaum falsch sein, sich gegen diese Mächte zu wehren.

Auch aus historischen Gründen: Denn dass fremde Kräfte der Türkei übel mitspielen wollen, das deutet Recep Tayyip Erdogan aus der Geschichte. Seinen großen Traum, für den er die Mehrheit der Türken auf seiner Seite glaubt, will er durch sie nicht zerstören lassen.

Erdogan macht's wie Putin

Der türkische Präsident träume insgeheim von einer Renaissance des Osmanischen Reichs, hatte in der Vergangenheit bereits Türkei-Experte Gareth Jenkins festgestellt.

Erdogan selbst bestätigt diese These in eigenen Aussagen: "Wir haben diese Nation, die man schon ins Abseits drängen wollte, zu neuer Größe geführt". Es sind Sätze wie diese, für die er viel Applaus von seinen Anhängern erhält.

In dieser Denkweise ähnelt er Wladimir Putin, auch wenn sich Erdogan mit dem russischen Präsidenten nach dem türkischen Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges an der syrischen Grenze in einem brisanten Spannungsverhältnis befindet.

Doch auch Putin wird nachgesagt, von einer ruhmreichen Vergangenheit zu träumen, da er den Zerfall der Sowjetunion als schmachvolle Niederlage erlebt hatte - so wie eine große Mehrheit in der Bevölkerung. Putins Politik, heißt es, werde von diesem historischen Trauma gelenkt.

Erdogan löst Prozessflut in Türkei aus

In der Türkei geht Erdogan inzwischen gegen jede echte oder vermeintliche Beleidigung vor. Mit Tausenden von Anklagen überzieht ein ganzes Heer von Anwälten Journalisten, Oppositionspolitiker und Schüler.

"Ermittlungen, Festnahmen, Prozesse, alles geschieht auf Druck der Regierung", sagte Erol Önderoglu von Reporter ohne Grenzen im ZDF. "Diese Prozesse, die ja eigentlich Erdogan selbst führt, zeigen sehr deutlich, dass die Verfassung in der Türkei eigentlich schon außer Kraft gesetzt ist".

Erdogan selbst sieht das ganz genauso. "Das Regierungssystem der Türkei hat sich de facto schon im Sinne eines Präsidialsystems verändert. Jetzt muss nur noch die Verfassung angepasst werden", sagte Erdogan jüngst.

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